"Zersetzung": Wie die Stasi Schicksal spielte

Stand: 17.06.2023 10:41 Uhr

Durch ihre christliche Jugendarbeit ahnt Familie von Rechenberg schon, dass sie in der DDR als oppositionell gilt. Doch erst der Blick in ihre Stasi-Akten zeigt die perfiden und unsichtbaren Methoden des MfS, um politische Gegner zu Fall zu bringen.

von Carolin Kock

Schlafzimmer, Schreibtisch, Küchenzeile und WC - als Sonnhild und Wolfgang von Rechenberg nach dem Mauerfall ihre Stasi-Akte einsehen, finden sie darin einen handgezeichneten Grundriss ihrer damaligen Wohnung in der Parchimer Mühlenstraße 41. "Ich bin nicht nur erschrocken. Mir war das sehr unangenehm, dass ich mir vorstelle, da sind Menschen durch unsere Wohnung gegangen und haben alles eingezeichnet. Das war mir sehr unangenehm und das war sehr übergriffig", sagt Sonnhild von Rechenberg. Sie und ihr Mann sind damals ahnungslos: "Also ich habe mir das nicht so vorgestellt, dass das jemand macht, weil wir haben ja niemandem was getan.“

Operativer Vorgang für eine Zersetzung nach Plan

Das sieht das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) anders und legt 1982 über Wolfgang von Rechenberg einen sogenannten Operativen Vorgang an. Festgeschrieben ist darin das Ziel, ihn zu "zersetzen" und seine Arbeit in der evangelischen Kirche zu beschädigen. Wolfgang von Rechenberg gilt als "feindlich-negative Kraft", weil er Wehrdienstverweigerer unterstützt, sich für Frieden und in Umweltfragen engagiert und durch seine christliche Jugendarbeit. Wichtig waren für das MfS dafür erstmal Informationen. Ein oder zwei Spitzel vermutet Wolfgang von Rechenberg damals in seinem Umfeld - tatsächlich sind 15 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) auf ihn angesetzt. "Im Telefon hat es immer geknackt. Das gab dann in kirchlichen Kreisen die Gepflogenheit zu sagen, dass die Kollegen in Zivil herzlich gegrüßt werden. Das war so ein bisschen Selbsttherapie, um das zu enttabuisieren oder den Schrecken durch Humor zu nehmen." Doch dass auch ihre Post einbehalten und ihre Wohnung verwanzt wird, weiß Familie von Rechenberg damals nicht.

Psychischer Schaden statt Verhaftung

4.500 "Operative Vorgänge" hatte das MfS über die Jahre in Bearbeitung. Allein ab 1988 kamen nochmal 1.600 dazu. Das MfS stufte die Betroffenen damit als politische Feinde ein. Sie alle einzusperren, konnte sich die DDR unter Staats- und Parteichef Erich Honecker nicht leisten. Das hätte außenpolitisches Ansehen gekostet und wirtschaftliche Kontakte erschwert, sagt die Politikwissenschaftlerin Sandra Pingel-Schliemann. Mit der Richtlinie 1/76 und den darin beschriebenen "Zersetzungsmaßnahmen" schlug das MfS ab Mitte der 1970er-Jahre deshalb einen neuen Weg ein, um politische Gegner zu Fall zu bringen, erklärt Pingel-Schliemann: "Die Zersetzung war im Grunde genommen eine Bestrafung ohne Urteil. Das MfS hat mit Mitteln operiert, die auf der psychologischen Ebene angesetzt haben. Also wo hat dieser Mensch seine Schwächen? Und sobald diese Schwächen herausgefunden worden sind, sind dort auch ganz speziell Zersetzungsmaßnahmen angesetzt worden, um die Personen psychisch fertig zu machen."

Stasi spielte Schicksal

Mithilfe der gesammelten, oft intimen Informationen inszeniert das MfS lautlos Probleme. Es streut Gerüchte, um den Ruf einer Person zu schädigen oder organisiert systematisch berufliche und private Misserfolge, um ihr Selbstvertrauen zu untergraben. So steht es in der Richtline 1/76. Für die Betroffenen spielt die Staatssicherheit damit Schicksal: "Die Zersetzungsmaßnahmen kamen häppchenweise und aus ganz verschiedenen Richtungen", so Sandra Pingel-Schliemann. "Plötzlich lief es im Beruf schief, im Privatleben, bei den Kindern in der Schule gab es Probleme, sodass es im Grunde für die Opfer auch schlichtweg unmöglich war, ihre Verfolgungssituation zu erkennen."

Täter kamen aus allen Gesellschaftsbereichen

Ausgeführt haben diese Zersetzungsmaßnahmen in aller Regel nicht unbedingt die Inoffiziellen Mitarbeiter, sagt Sandra Pingel-Schliemann, sondern die sogenannten Partner des politisch operativen Zusammenwirkens. Zu denen gehörten in der DDR alle möglichen staatlichen und gesellschaftlichen Kräfte wie Betriebsleiter, Ärzte, Schuldirektoren, Hausnachbarn, Polizisten und Juristen. Ohne sie hätten die Inszenierungen nicht funktioniert. Dabei war die Quote derjenigen, die durch Erpressung geworben worden sind, sehr gering, so Pingel-Schliemann. Denn am effektivsten seien die Kräfte gewesen, die an das System glaubten und deshalb auch die Maßnahmen des MfS ausgeführt haben. Dass das MfS der Grund für Misserfolge, Streit und Schicksalsschläge war, erfahren die meisten Betroffenen erst durch die Öffnung der Stasi-Akten.

Akten belegen die Zersetzung

Im Revolutionsjahr 1989 sorgen vor allem Mitglieder des Neuen Forums dafür, dass die Stasi-Akten überhaupt gesichert und zugänglich gemacht werden. Auch Wolfgang von Rechenberg ist dabei, als in Parchim das Gebäude des Staatssicherheitsdienstes besetzt wird und setzt Überreste verbrannter Akten wieder zusammen. Sie belegen die Planmäßigkeit der Zersetzungsmaßnahmen. Nur damit können Opfer bis heute überhaupt als solche anerkannt werden. Immer wieder melden sich Menschen, die zum ersten Mal in ihre Akten schauen und erst jetzt anfangen, Ungereimtheiten und Misserfolge zu hinterfragen, sagt Anne Drescher, die Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur: "Man hat das so direkt vielleicht gar nicht wahrgenommen oder man hakt das für sich ab. Aber dann erlebt man plötzlich, wenn man das liest und das Ganze auch dokumentiert findet, dass das mit Maßnahmen der Staatssicherheit zu tun hatte. Das lässt einen im Nachgang noch so erschrecken und man erkennt 'Das hat mich so viel Lebenszeit gekostet oder Energie gekostet oder Freundschaften gekostet oder, dass Träume zerstört wurden, was ich jetzt viel besser einordnen kann im Nachhinein.'"

Rostocker Studie untersucht Langzeitfolgen nach SED-Unrecht

Wie sich solche Zersetzungsmaßnahmen auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung auf Betroffene auswirken, das untersucht derzeit die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Unimedizin Rostock in einer Studie, für die sie weitere Teilnehmer sucht. Es sollten Menschen sein, die von Zersetzungsmaßnahmen betroffen waren und rehabilitiert sind oder bei denen aus der Stasiakte hervorgeht, dass Zersetzungsmaßnahmen gegen sie angewendet wurden. "Die Ergebnisse der Studie sollen zur Aufarbeitung des Themas und zur Sensibilisierung in der Gesellschaft beitragen sowie in künftige Behandlungs- und Beratungsangebote einfließen", heißt es auf der Internetseite der Universitätsmedizin Rostock unter dem Stichwort "SED-Unrecht". In weiteren Teilstudien untersucht das Rostocker Forschungsteam ebenfalls die Langzeitfolgen des DDR-Leistungssports und die seelische Gesundheit ehemaliger Wochenkrippenkinder.

Strategie der Offenheit

Die Staatssicherheit der DDR wollte nachweislich die beruflichen und persönlichen Beziehungen von Sonnhild und Wolfgang von Rechenberg zerstören. Geschafft hat sie das nicht, denn die Strategie im geschützten Kirchenraum sah vor, mit Ungereimtheiten offen umzugehen. "Das MfS war erst mal nicht Gegenstand unseres Interesses, sondern Kinder und Jugendliche", sagt Wolfgang von Rechenberg, "Und wir haben uns Sorgen gemacht um unser Land und um die nachwachsenden Generationen. Wir haben uns auch intuitiv auf unsere Aufgabe konzentriert und die war sehr sinnstiftend." Mit Jugendlichen offen und frei zu diskutieren, Widersprüche zu benennen und aus Überzeugung dagegen zu sein - das haben die beiden sich bis heute bewahrt.

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NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 18.06.2023 | 19:30 Uhr

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