Amoktat bei Zeugen Jehovas: Wie es den Überlebenden heute geht

Stand: 09.03.2024 06:00 Uhr

Am 9. März 2023 erschoss ein 35-Jähriger in einem Gemeindezentrum der Zeugen Jehovas in Hamburg-Alsterdorf sieben Menschen und sich selbst. Für die Überlebenden geht es seitdem darum, einen Weg zu finden, mit dem Erlebten klarzukommen. Fünf von ihnen erzählen.

von Marc-Oliver Rehrmann und Caroline Schmidt

Jonathan hat den Angriff nur knapp überlebt. Als der Täter Philipp F. von außen durch eine Fensterscheibe des Gemeindezentrums schießt, ist er es, der als Erster im Saal getroffen wird. Er sagt, er habe keine Angst um sein eigenes Leben gehabt. "Ich war die ganze Zeit im Verteidigungsmodus. Ich habe überlegt: Wie kann ich uns hier im Gemeindehaus schützen?" Trotz seiner schweren Verletzungen alarmiert Jonathan mit seinem Handy die Polizei und versteckt sich schließlich in einem Toilettenraum. Als der Angreifer durch die Tür schießt, wird er erneut getroffen. "Ich habe nur überlebt, weil die Polizei so schnell vor Ort war," sagt der 39-Jährige.

Um 21.01 Uhr fallen die ersten Schüsse, um 21.09 Uhr sind die ersten Spezialkräfte der Polizei vor Ort. Der Täter feuert insgesamt 135 Schüsse ab. 29 Anwesende überleben den Angriff, neun von ihnen werden verletzt.

"Die Gedenkfeier war mir sehr wichtig"

Jonathan, Überlebender der Amoktat vom 9. März 2023, steht zwischen Stuhlreihen in einem Gemeindehaus der Zeugen Jehovas. © NDR Info
Jonathan ist bei der Amoktat schwer verletzt worden - inzwischen geht es ihm deutlich besser.

"Die Normalität ist wieder da, ich bin komplett zurück im Alltag angekommen", sagt Jonathan ein Jahr nach der Amoktat im Gespräch mit dem NDR. Aber es war ein langer und mitunter steiniger Weg. In der Tatnacht können Ärzte mit einer mehrstündigen Operation sein Leben retten. Fünf Kugeln haben mehrere Organe beschädigt. Ein Stück der Lunge muss entfernt werden. Zwei Wochen nach der Amoktat wird Jonathan aus dem Krankenhaus entlassen - auf seinen eigenen Wunsch hin. Er will unbedingt an der geplanten Gedenkfeier teilnehmen. "Das muss ich schaffen", hat er sich im Krankenbett vorgenommen. Die Ärzte hätten ihn bei dem Vorhaben unterstützt. Schließlich schafft er es, rechtzeitig für die Gedenkfeier auf die Beine zu kommen. "Es war mir ganz wichtig, den Angehörigen der Verstorbenen zu zeigen: Wir stehen das zusammen durch! Und auch, um die Trauer zum Ausdruck zu bringen."

"Ich hatte mit noch Schlimmerem gerechnet"

Jonathan hat am Abend des Angriffs viel gesehen, aber längst nicht alles. Wie viele Menschen ums Leben kamen, hat er erst ein paar Tage später im Krankenhaus erfahren. "Meine Frau hat mich schützen wollen, sie hat mir nach und nach erzählt, was passiert ist." Die Nachricht von den sieben Menschen, die der Angreifer erschoss, habe ihn erschüttert. "Aber ich hatte mit noch Schlimmerem gerechnet. Ich wusste ja, wie viele in dem Saal waren."

Viel über den Tat-Abend gesprochen

Ein Polizeifahrzeug steht auf der Straße vor dem Gemeindehaus der Zeugen Jehovas, an dem Blumen und Kerzen abgelegt wurden. © Christian Charisius/dpa Foto: Christian Charisius
Das Gemeindehaus in Hamburg-Alsterhaus wird von den Zeugen Jehovas nicht mehr für Zusammenkünfte genutzt.

Drei Monate lang ist Jonathan krankgeschrieben. "Diese Zeit hat extrem gut geholfen, das Ganze zu verarbeiten, weil ich viel Zeit hatte, mit meiner Familie zu sprechen", sagt der Prüfingenieur in der Rückschau. "Das war meine Therapie." Ausführlich spricht er mit seiner Frau und ihren beiden Kindern über die Geschehnisse bei dem Angriff. "Es war mir und uns allen wichtig, dass da kein Schatten entsteht, so eine dunkle Ecke im Gehirn oder in der Erinnerung, die dann irgendwann gefüllt wird mit der Fantasie. Das haben wir mit Fakten gefüllt."

Der Familienvater sagt, in den ersten drei, vier Wochen hätten sie bei der Verarbeitung des Anschlags "das Gröbste rausgehabt". Körperlich habe das Ganze hingegen noch länger gedauert.

Mary und Kevin, zwei Überlebende der Amoktat vom 9. März 2023, sitzen nebeneinander und geben dem NDR ein Interview. © NDR Info
AUDIO: Vom Überleben: Ein Jahr nach dem Amoklauf bei den Zeugen Jehovas (6 Min)

"Ich bin unglaublich viel Rad gefahren"

Einen Monat nach dem Anschlag fährt Jonathan für vier Wochen in die Reha. "Nach dieser Zeit war ich wieder richtig fit", erinnert er sich. "Ich konnte auch wieder viel Sport machen. Ich bin unglaublich viel Fahrrad gefahren. Laufen ging noch nicht. Und später konnte ich auch wieder schwimmen und tauchen, was ich sehr gerne mache."

Es geht bergauf, aber der Heilungsprozess stockt irgendwann. Es sei schwierig gewesen, nach ein paar Monaten zu realisieren, dass er mit den Folgeschäden der Schussverletzungen noch lange werde auskommen müssen. "Aber es ist alles erträglich - und ich habe es akzeptiert." Immerhin könne er seinen Beruf weiter ausüben und Sport machen.

"Negative Gedanken habe ich dann komplett verbannt"

Fragt man Jonathan nach Rückschlägen in dem Genesungsprozess, schildert er einen Tag während der Reha. Sechseinhalb Wochen nach der Tat. "Es gab einen einzigen Tag in diesem ganzen Jahr, wo ich sagen würde: Das war ein düsterer Tag. Da habe ich negative Gedanken zugelassen, die sofort zur Frustation geführt haben. Und auch eine Wut kam hoch. Zum Glück habe ich dann meine Frau angerufen, die mich sofort aus dieser negativen Gedankenspirale herausgeholt hat. Und seitdem habe ich negative Gedanken komplett verbannt." Er versuche vielmehr, den Blick auf das Positive zu richten.

"Die TV-Bilder belasten mich nicht"

Auf den Jahrestag und die wieder aufflammende Medienberichterstattung über den Tatabend schaut Jonathan gelassen. "Wenn ich die Bilder jetzt wieder sehe, geht der Puls zwar hoch. Aber es belastet mich nicht." Er habe sich im zurückliegenden Jahr sogar gezielt mit den Bildern konfrontiert. "Das ist meine Art, damit umzugehen."

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Polizeiwagen mit Blaulicht vor dem Gebäude der Zeugen Jehovas in Alsterdorf in der Nacht des Amoklaufes. © Screenshot

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Ängste und Albträume: Therapie hat geholfen

Mary und Kevin, zwei Überlebende der Amoktat vom 9. März 2023, sitzen nebeneinander und geben dem NDR ein Interview. © NDR Info
Das Ehepaar Mary und Kevin hatte lange Zeit Mühe, in den Alltag zurückzufinden.

Mary hat bei der Aufarbeitung einen anderen Weg als Jonathan gewählt. Sie spricht mit einer Therapeutin, die ihr in dem Jahr nach dem Angriff sehr geholfen hat. Heute sagt die 26-Jährige: "Es geht mir schon wesentlich besser als noch vor ein paar Monaten. Ich hatte ziemlich lange Rückenschmerzen, durch die Anspannung und die Trauer." Sie habe auch Ängste gehabt. "Zum Beispiel hatte ich Angst im Dunkeln, wenn ich abends alleine rausgegangen bin. Ich habe überall viele Gefahren gesehen. Aber dank meiner Therapeutin habe ich die Ängste nicht mehr - und auch keine Albträume mehr." Einmal habe sie eine Panikattacke gehabt.

Hinter einem Tisch in Deckung gegangen

Mary war am Abend des Angriffs zusammen mit ihrem Ehemann Kevin in dem Gemeindezentrum. Als die ersten Schüsse zu hören sind, denkt sie zunächst an Silvesterböller, die jemand gegen die Fenster wirft. Aber dann erkennt ihr Mann, dass es ein Angriff ist. "Da schießt jemand, alle auf den Boden!", ruft er in den Saal. Mary versteckt sich mit anderen hinter einem Tisch, die Schubladen ziehen sie über ihren Köpfen heraus. Minutenlang harren sie aus, bis die Polizei eintrifft. Mary und Kevin überstehen den Abend ohne Schussverletzung.

"Die Konzentration ist nicht so da wie früher"

Mary pausiert zunächst einen Monat lang in ihrem Job als Vertriebsassistentin. Aber auch danach hat sie Mühe, in den Alltag zurückzufinden. "Die Konzentation war nicht so da wie früher. Ich hatte ständig Gedanken, die sich nicht um die Arbeit drehten. Es hat sehr lange gedauert, bis ich meinen Rhtyhmus wiedergefunden habe und wieder richtig arbeiten konnte." Immerhin: Ihr Arbeitgeber bringt viel Verständnis für ihre Situation auf. Erst langsam sei die Lebensfreude im Alltag zurückgekehrt, erzählt Mary. "Wie kann es sein, dass die Welt einfach weiterläuft? Wie kann es sein, dass es jetzt draußen blüht? Das habe ich anfangs nicht verstanden."

Knapp zehn Monate nach der Amoktat: Um in Hamburg nicht der Silvesterböllerei ausgesetzt zu sein, fährt sie mit ihrem Mann und einigen Freunden nach Dänemark, in ein Ferienhaus in einer abgelegenen Gegend. Aber der Plan geht nicht ganz auf. "Am Tag nach Silvester saß ich ganz gemütlich mit einem Buch im Wintergarten. Ich rechnete nicht mehr mit Böllern. Auf einmal knallte es draußen, und sofort dachte ich: Gleich passiert wieder etwas Schlimmes."

Einsatzkräfte sind bei einem mutmaßlichen Amoklauf. © TV Newskontor Foto: Screenshot
AUDIO: Angriff auf Zeugen Jehovas: Ein NDR Reporter erinnert sich an den Tatabend (7 Min)

"Im Dunkeln spazieren gehen? Da fühle ich mich nicht sicher"

Das befreundete Ehepaar Fee und Marcel reiste über Silvester mit nach Dänemark. Sie gehören ebenfalls der Zeugen-Jehovas-Gemeinde an. Fee hat überlebt, weil sich ein Gemeinde-Mitglied während des Angriffs am 9. März 2023 schützend auf sie gelegt hat. Marcel versteckte sich auf einer Toilette. Fee erzählt, sie sei heute viel vorsichtiger als früher. "Nach der Zeit in Dänemark habe ich gedacht: Jetzt kann ich wieder im Dunkeln spazieren gehen. Aber als ich dann abends mit einer Freundin unterwegs war, habe ich gemerkt, dass es noch nicht geht. Ich fühle mich da nicht sicher."

Die Gardinen sind abends immer geschlossen

Fee und Marcel, zwei Überlebende der Amoktat vom 9. März 2023, sitzen nebeneinander und geben dem NDR ein Interview. © NDR
Fee und Marcel erzählen im NDR Interview, dass sie sich gegenseitig bei der Aufarbeitung der Erlebnisse vom 9. März 2023 helfen.

Das Paar sagt, es habe auch zu Hause das Sicherheitsgefühl verloren. "Wir hatten früher keine Gardinen zu Hause. Wir waren froh über jedes bisschen Tageslicht. Aber jetzt muss die Gardine immer vollständig geschlossen sein, sobald es draußen dunkel ist", berichtet Marcel. Sie hätten sonst das Gefühl, dass sie gesehen werden oder dass ihnen jemand etwas Böses antun könnte. Kurz nach der Amoktat hätten sie sogar ein Brettspiel lieber auf dem Fußboden als am Tisch gespielt, "um außer Sichtweite zu sein".

Tausende Briefe aus aller Welt

Fee und Marcel erzählen, was ihnen in der schweren Zeit geholfen habe: die vielfältige Unterstützung, die sie erhalten haben - nicht nur von der Familie, von Freunden und Arbeitskollegen, sondern auch von Menschen, die sie gar nicht kennen. Unzählige Briefe sind in der Gemeinde der Zeugen Jehovas eingegangen - viele davon aus Deutschland, aber auch aus den USA, Spanien, Frankreich und sogar aus der Dominikanischen Republik. "Bei 15.000 Briefen haben wir aufgehört zu zählen", sagt Marcel. Manchmal seien auch gebastelte Geschenke dabei gewesen. Und wildfemde Menschen hätten sie zu einem Urlaub bei sich im Ausland eingeladen.

"Die juristischen Dinge interessieren mich nicht"

Den Medienberichten über die Amoktat ist Marcel nicht aus dem Weg gegangen. Im Gegenteil. "So viel wie möglich über den Abend zu erfahren, hat mir sehr geholfen. Und auch was davor passiert ist, wie es dazu kam. Aber alles, was danach geschehen ist: die juristischen Dinge und die Frage, ob es weitere Schuldige gab - das hat mich alles gar nicht mehr interessiert." Zur Begründung sagt der 31-Jährige: "Der Abend ist gelaufen. Es würde nichts ändern an unserer Situation. Es wird uns auch in unserer psychischen Aufarbeitung nicht voranbringen."

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | 08.03.2024 | 14:00 Uhr

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