Menschen bei einer Montagsdemo in Hechingen gegen die aktuelle Flüchtlingspolitik.

Unzufriedene Bürger und erstarkende AfD im Zollernalbkreis

Kleine Orte, große Wut: Wie sich der Streit um die Flüchtlingspolitik zuspitzt

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Jürgen Rose
Lukas Föhr

Während es immer weniger Unterbringungsmöglichkeiten gibt, kommen immer mehr Flüchtlinge. In mehreren Orten des Zollernalbkreises ist die Stimmung deshalb angespannt.

Ein Montagabend vor dem Hechinger Rathaus (Zollernalbkreis): Etwa 60 Menschen haben sich hier versammelt, um gegen die Flüchtlingspolitik zu demonstrieren. Viele von ihnen tragen herzförmige Papp-Plakate in den Händen. "Unser Land zuerst!" steht dort in weißen Lettern auf blauem Grund geschrieben. Andere schwenken Deutschland-Fahnen. Jede Woche treffen sie sich hier - seit vielen Monaten. "Montagsdemo" nennen sie das.

Die Gruppe setzt sich in Bewegung durch die Innenstadt. Ziel ist ein baufälliges Wohnhaus, in dem sie ausländische Sozialbetrüger vermutet. Auf den Briefkästen stehen Namen, die ausländisch klingen. Aber das Haus scheint leer zu stehen. Der ganze Auflauf versammelt sich hier. "Das sind Scheinadressen, um staatliche Unterstützungen abzugreifen," behauptet einer. Beweise hat er nicht.

Vor dem Hechinger Rathaus angekommen, ergreift der Hechinger AfD-Gemeinderat Johannes Simon das Wort. Er spricht von einer Invasion illegaler Migranten. "Abertausende junge afrikanische Männer" kämen derzeit über das Mittelmeer. "Sie suchen nicht Schutz, sondern Ansiedlung und Versorgung", sagt Simon in ein weißes Megafon. Die Menge applaudiert. Vereinzelt schallt es "Bravo".

Der Hechinger AfD-Gemeinderat Johannes Simon spricht in ein Mikrofon.
AfD-Gemeinderat Johannes Simon (rechts) bei einer Hechinger Montagsdemo. Links der AfD-Landtagsabgeordnete Joachim Steyer.

Unterbringung Geflüchteter beschäftigt Kommunalpolitiker

Wer ist dieser Mann, der auf sogenannten Montagsdemos die Stimmung anheizt? Simon besitzt ein Reisebüro um die Ecke. "Grüne haben hier Hausverbot" stand bis vor kurzem noch im Schaufenster. Das Plakat und AfD-Werbematerial musste er auf Druck eines Reiseveranstalters abhängen. Simon versteht die Aufregung nicht. "Wir sind keine Rassisten. Wir sind nicht rechtsradikal oder sonst irgendwas", sagt er.

Wer mehr über den Kommunalpolitiker Simon erfahren möchte, hat es nicht leicht. Der Vorsitzende der SPD-Gemeinderatsfraktion, Jürgen Fischer, etwa will sich gegenüber der Presse gar nicht zur AfD äußern. Werner Beck ist Fraktionsvorsitzender der Freien Wähler in Hechingen und kennt Simon aus dem Gemeinderat. Dort habe er bislang keine Aussagen von ihm zur Flüchtlingspolitik gehört. Simon halte sich meistens aus Sachthemen raus, so Beck, er melde sich nur selten zu Wort.

Seit längerem beobachten Beck und seine Parteikollegen die montäglichen Zusammenkünfte in der Innenstadt kritisch. Es handle sich um eine "sehr geringe" Anzahl an Menschen, die dort demonstrieren. Sie sei nicht repräsentativ für die Stadt. Auch die Freien Wähler wollen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen im Zollernalbkreis besser abläuft. Man hoffe auf Lösungen aus Stuttgart, Berlin oder Brüssel. Dass Hechingen aber weiter Geflüchtete aufnehmen muss, steht für Beck außer Frage. "Die Menschen sind Geflüchtete, sie sind da und da entspricht es unserem christlichen Selbstverständnis, dass wir sie integrieren", sagt er.

Streit um Flüchtlingsheim eskalierte auf Infoveranstaltung in Killer

Ein paar Kilometer weiter befindet sich das Dörfchen Killer, das zur Stadt Burladingen (Zollernalbkreis) gehört. Die idyllische Lage unterhalb der sanften Hänge im Killertal trügt. Seit Monaten ist die Lage in dem 600-Einwohner-Ort hoch explosiv. Im Juli wollte der Landrat des Zollernalbkreises Günther-Martin Pauli (CDU) über eine geplante Unterkunft für Geflüchtete in einem ehemaligen Gasthof informieren. Auf einem Video ist zu sehen, wie Pauli mit dem Mikrofon in der Hand ansetzt: "Lassen Sie uns in einem demokratischen Rechtsstaat …". Dann wird er unterbrochen - von Lachen und Pfiffen aus dem Publikum. Der AfD-Landtagsabgeordnete Joachim Steyer meldet sich zu Wort. Von den Zuschauerrängen aus richtet er sich an Pauli: "Wenn die Bevölkerung sagt: 'wir wollen das nicht', sollten Sie doch die Interessen der Bevölkerung vertreten", sagt er unter Applaus.

Und was denkt "die Bevölkerung"? Das ist nicht einfach herauszufinden: Viele Bewohner des Orts möchten lieber nicht mehr mit der Presse sprechen. Die, die es tun, wählen ihre Worte sorgfältig, etwa der Ortsvorsitzende Gerd Schäfer (parteilos). Vielen sei unwohl bei der Vorstellung, dass junge männliche Geflüchtete nach Killer ziehen. "Die Angst ist halt einfach da, dass das irgendwie aus dem Ruder läuft”.

Der Gasthof Lamm in Killer
Geplante Flüchltingsunterkunft in Killer: der ehemalige Gasthof Lamm.

Landrat "erschüttert" über "demokratische Verwahrlosung"

Die Eskalation auf der Informationsveranstaltung zum Flüchtlingsheim hat Killer bundesweit in die Schlagzeilen gebracht. Der Landrat wurde von großen Teilen der Bürger niedergebrüllt, kam kaum zu Wort. Die schockierenden Szenen haben den Landrat vor wenigen Wochen auf den ZDF-Talk-Sessel von Markus Lanz gebracht. Eigentlich wollte er in der Bürgerversammlung für Verständnis und neue ehrenamtliche Mitarbeiter werben, jetzt muss er bundesweit erklären: Woher kommt diese Aggression?

Die Ängste der Menschen vor Ort in Killer kann Pauli verstehen. Aber wie die Bürger auf der Bürgerversammlung mit ihrem Landrat umgegangen sind, sei eine "unappetitliche" Erfahrung gewesen. Er sei "regelrecht erschüttert" über diese "demokratische Verwahrlosung". Günther-Martin Pauli: "Ich bin seit 16 Jahren Landrat und seit 34 Jahren in kommunalpolitischen Wahlämtern. So etwas habe ich noch nicht erlebt."

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AfD profitiert von Konflikten

Bei der Bürgerversammlung waren auch zwei Landtagsabgeordnete der AfD, die die Stimmung für sich zu nutzen versuchten. Dass die Partei durch Konflikte wie den rund um die Flüchtlingsunterkunft in Killer profitiert, gibt der AfD-Landtagsabgeordnete Joachim Steyer offen zu. Der Politiker, ein gelernter Gas- und Wasserinstallateur, lebt nur wenige Kilometer von Killer entfernt. Er sagt die Bürger fühlten sich von den etablierten Parteien nicht mehr verstanden. "Man hört ihnen nicht zu und darum gibt es die AfD."

Das will Landrat Pauli so nicht gelten lassen. "Wenn jemand dem Bürger zuhört, dann sind wir es. Wir machen ständig Bürgerdialog-Veranstaltungen im ganzen Landkreis. Wir hören zu und lassen die Bürger-Meinungen auch in unser Handeln einfließen."

Zukunft von geplanter Unterkunft in Killer unklar 

Zurück in Hechingen: Der AfD-Landtagsabgeordnete Steyer läuft fast jede Woche bei den Montagdemos durch die Innenstadt mit. Auch er spricht durch das weiße Megafon zu der Menge. Er sei stolz auf Killer, eine "Stadt, die Widerstand leistet, die nicht zu allem Ja und Amen sagt." Wieder Applaus von der Menge.

Derzeit ist nicht klar, ob im ehemaligen Gasthaus Lamm in Killer nicht doch Flüchtlinge untergebracht werden. "Noch ist nichts entschieden", sagt Landrat Pauli. Aber die geplante Flüchtlingsunterkunft in Killer sei "natürlich" nicht vom Tisch: "Die Gemeinde Burladingen muss jetzt intelligente Alternativ-Projekte anbieten". Das Gasthof Lamm in Killer sei kein idealer Ort mehr, um Flüchtlinge unterzubringen, resümiert Landrat Pauli nach den Erfahrungen der Bürgerversammlung, denn es gebe dort "eine sehr überspannte Atmosphäre".

Die Politik müsse auf diesen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung reagieren: "Unsere Fachkräfte und auch die engagierten Bürger sind am Limit". Pauli drängt auf eine Änderung der Rahmenbedingungen in der Flüchtlingspolitik: "Wir dürfen für Flüchtlinge keine unnötigen Anreize schaffen. Deutschland nimmt 30 Prozent aller Flüchtlinge auf, die nach Europa kommen. Baden-Württemberg hat mehr als doppelt so viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen wie ganz Frankreich". Das könne so nicht beliebig weitergehen, sagt der CDU-Politiker im Telefoninterview mit der Redaktion von "Zur Sache Baden-Württemberg". Zu den "unnötigen Anreizen" zählt Pauli auch die staatlichen Geldleistungen, die "indirekt verbrecherische Schlepperbanden mitfinanzieren" würden. "Das kann niemand wollen", so der Landrat.

 Die ganze Sendung "Zur Sache Baden-Württemberg" vom 28.9.2023:

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