Stockbetten stehen zwischen Zäunen in einer Notunterkunft für Asylsuchende: Städte und Gemeinden in BW suchen händeringend nach Unterkünften für Geflüchtete (Symbolbild). (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Philipp von Ditfurth)

Die Lage in Calw und Rottenburg

Immer mehr Städte bei Flüchtlingsunterbringung am Limit? Die Lage ist unterschiedlich

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Hannah Vogel
Hannah Vogel ist Teil des Teams von "Zur Sache! Baden-Württemberg". (Foto: SWR, Patricia Neligan)
Nicole Florié
Nicole Florié ist Teil des Teams von "Zur Sache! Baden-Württemberg". (Foto: SWR, Patricia Neligan)

Der Zahl der Geflüchteten in Baden-Württemberg steigt, der Druck auf die Kommunen auch. Wie unterschiedlich die Lage im Land ist, zeigt ein Blick nach Calw und Rottenburg.

Vielen Kommunen in Baden-Württemberg machen die hohen Flüchtlingszahlen zu schaffen. In Calw zum Beispiel klingelt das Telefon in der Ausländerbehörde pausenlos. Ständig kommen neue Geflüchtete an. "Wir haben so viele Fälle, dass wir eigentlich doppelt so viel Personal bräuchten", sagt Oberbürgermeister Florian Kling (SPD) dem SWR. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trauten sich mittlerweile nicht mal mehr aufs Klo zu gehen, so Kling.

Bei den Anträgen muss priorisiert werden. Fachkräfte oder Studierende aus dem Ausland fallen laut Kling meistens hinten runter: "Wir müssen erstmal die dringenden Fälle abarbeiten, die bei uns vor der Tür stehen."

Ausländerbehörde in Calw ist überlastet

Vergangene Woche hat Kling ein Praktikum in der eigenen Ausländerbehörde gemacht, um die Abläufe zu verstehen und zu verbessern. "Wir haben jetzt beispielsweise eine E-Akte eingeführt und die Online-Terminvergabe, damit wir hier mal den Wald vor lauter Bäumen sehen", erzählt er.

Außerdem will Kling weitere Mitarbeitende einstellen, obwohl das Geld knapp ist. "Die Stadt Calw war finanziell noch nie gut aufgestellt", sagt er. Gerade berate man über den Haushalt fürs kommende Jahr. Schon jetzt steht für ihn fest: "Wir werden so hohe Schulden haben, wie niemals zuvor."

Calws Oberbürgermeister Florian Kling (SPD) hat ein Praktikum bei der Ausländerbehörde hinter sich (Foto: SWR)
Kling brütet mit einer Mitarbeiterin der Ausländerbehörde über dem neuen Computersystem.

Integrationsmanager: Ständig neue Probleme

Auch aus Sicht des Integrationsmanagers der Stadt Calw, Michael Kunert, ist die derzeitige Situation in Calw eine Herausforderung. Grund dafür seien "einfach die Gesamtzahlen", sagt er. Kunert kümmert sich seit vergangenem Sommer ausschließlich um Geflüchtete aus der Ukraine. Und ständig tauchten neue Probleme auf.

Zuerst habe man Wohnungen finden, dann Deutschkurse vermitteln müssen. "Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem die Ersten so gut Deutsch können, dass wir sie in den Arbeitsmarkt integrieren können", so Kunert. Dafür könnten sich die Geflüchteten an verschiedene Stellen wenden. "Die kommen aber dann trotzdem hier zu mir, weil ich im Prinzip als Ansprechpartner hier die letzten eineinhalb Jahre zuständig war."

Gleichzeitig reiße der Zustrom an Neuankömmlingen nicht ab. Für Kunert steht deshalb fest: "Wenn weiter Menschen kommen, dann funktioniert das nur, wenn die, die schon da sind, in die Stadtgesellschaft integriert werden." Das geschehe auch schon, so Kunert.

Syrischer Flüchtling ist jetzt Bürgermeister

Einer, der es geschafft hat, ist Ryyan Alshebl. 2015 floh er aus Syrien über Karlsruhe nach Calw. Dort lebte er eineinhalb Jahre und lernte mit Hilfe von Ehrenamtlichen Deutsch. Nach einem Praktikum im Rathaus Althengstett (Kreis Calw) machte er eine duale Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten und ist nun Bürgermeister von Ostelsheim im Kreis Calw. Als solcher sieht er sich in einem moralischen Dilemma. Er stehe inzwischen auf der sicheren Seite. "Jetzt bin ich derjenige, der den anderen sagen soll: 'Bitte kommt nicht'", so Alshebl.

Für Alshebl ist Arbeiten ein wichtiger Teil der Integration. "Ich finde es dämlich, wenn jemand, der seit acht Jahren da ist, keinen Zugriff zum Arbeitsmarkt bekommt", sagt er im Hinblick auf den Fall eines geduldeten Geflüchteten mit Arbeitsverbot. Entweder müsste dieser Mensch dann abgeschoben werden oder ihm müsse die Chance gegeben werden, dass er etwas schaffen könne.

Unternehmen beschäftigen 35 Prozent Geflüchtete

In Rottenburg am Neckar (Kreis Tübingen) berät Sabrina Miller von der "Karrierewerkstatt" seit fünf Jahren Geflüchtete, die arbeiten wollen. "Wir haben hier Menschen, die keinerlei Zugang zu Bildung hatten und sich jetzt als Fachkräfte qualifizieren konnten und zum Beispiel den Meistertitel anstreben", sagt Miller. Es sei schön zu sehen, wie Menschen über sich hinauswüchsen.

In der "Karrierewerkstatt" erhalten Geflüchtete Hilfe bei der Jobsuche. (Foto: SWR)
In der Karrierewerkstatt in Rottenburg erhalten Geflüchtete Hilfe bei der Jobsuche.

Inzwischen gibt es laut Miller Unternehmen in der Region, deren Belegschaft zu 35 Prozent aus der "Karrierewerkstatt" stamme. Miller sieht sich und ihre Kolleginnen und Kollegen als Schnittstelle zwischen Geflüchteten und Behörden. Sie hilft bei Anerkennungsprozessen oder beim Behördendeutsch. Gestartet war die "Karrierewerkstatt" als Projekt ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer, jetzt ist Miller bei der Stadt angestellt.

OB Rottenburg: "Jammern in der Politik" in Mode

Rottenburgs Oberbürgermeister Stephan Neher (CDU) sieht die aktuellen Herausforderungen in der Flüchtlingspolitik. Trotzdem kann er die Haltung mancher Bürgermeisterinnen und Bürgermeister nicht ganz nachvollziehen. "In den letzten Wochen ist es zur Mode geworden, dass man ständig beklagt, wie hart die Arbeit als Bürgermeister oder kommunales Gremium ist", findet Neher. Das sei für ihn mal der Antrieb gewesen, Oberbürgermeister zu werden. Man müsse immer nach neuen Wegen und Lösungen suchen.

Zu Beginn des Kriegs in der Ukraine richtete die Stadt zum Beispiel eine Betreuungsmöglichkeit für geflohene Kinder ein. "Wir haben nicht erst darauf gewartet, ob die Kosten vom Bund oder Land ersetzt werden. Wir haben einfach gehandelt." Erst im Nachhinein habe man dann erfahren, dass manche Kosten nicht erstattet werden, so Neher.

Rottenburg hat Lage laut OB "gut im Griff"

Bisher scheint die Stimmung in Rottenburg nicht gekippt zu sein. "Die Rottenburger merken, dass wir die Lage bis zum heutigen Tag gut im Griff haben und nicht überfordert sind, wenn nochmal zwei Busse kommen", sagt er. Momentan hat die Stadt mehr als 100 Wohnungen für Geflüchtete angemietet. Man bekomme aber noch immer neue Wohnungen oder Häuser angeboten, sagt Neher.

Der Rottenburger Walter Hahn war Anfang April 2022 einer der Ersten, der eine ukrainische Familie bei sich aufnahm. Er kann sich noch genau an den Tag erinnern, als Russland die Ukraine angriff. "Ich habe das morgens im Fernsehen gesehen", sagt er. Noch am selben Tag schickt er der Stadt eine E-Mail und erklärt sich bereit, Geflüchtete aufzunehmen. Daraufhin zogen Yuana, deren zweijährige Tochter Polina und Tante Natalie in die Einliegerwohnung ein.

Yuana und ihre zweijährige Tochter Polina sind vor dem Krieg in der Ukraine nach Rottenburg geflüchtet (Foto: SWR)
Yuana und Tochter Polina haben sich mittlerweile in Rottenburg eingelebt.

"Gute Nachbarn" helfen bei Integration

Mutter und Tochter wohnen noch immer dort. Sie haben sich mittlerweile in Rottenburg eingelebt - auch dank Walter Hahn und seiner Frau. Die seien "gute Nachbarn", sagt Yuana. Sie hätten zum Beispiel geholfen, Polina im Kindergarten anzumelden. Yuana kann inzwischen ein bisschen Deutsch, Polina hat Freundinnen und Freunde in Rottenburg gefunden.

Von Januar bis Ende Oktober 2023 kamen laut baden-württembergischem Migrationsministerium mehr als 31.000 Asylsuchende nach Baden-Württemberg. Die drei häufigsten Herkunftsländer waren demnach die Türkei, Syrien und Afghanistan. Hinzu kommen mehr als 34.000 Geflüchtete aus der Ukraine. Sie müssen keinen Asylantrag stellen.

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