Der Angeklagte in einem Prozess um sexuelle Nötigung betritt den Gerichtssaal. Der inzwischen vom Dienst freigestellte Inspekteur der Polizei soll im November 2021 in Stuttgart eine Polizeibeamtin sexuell belästigt haben. (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Bernd Weißbrod)

#MeToo-Verfahren BW

Staatsanwaltschaft will Freispruch für Polizei-Inspekteur anfechten

Stand

Der Inspekteur der Polizei ist im Prozess um sexuelle Nötigung einer Kollegin freigesprochen worden. Die Staatsanwaltschaft will Revision einlegen.

Im Prozess gegen den baden-württembergischen Inspekteur der Polizei ist der Angeklagte freigesprochen worden. Das entschied das Landgericht Stuttgart am Freitag. Dem 50-jährigen Spitzenbeamten wurde vorgeworfen, im November 2021 eine jüngere Hauptkommissarin sexuell genötigt zu haben. In dem Verfahren ging es um die Frage, ob der ranghöchste Polizist des Landes seine Machtstellung als Vorgesetzter missbrauchte, um die Kommissarin zu sexuellen Gefälligkeiten zu drängen.

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Richter Volker Peterke erklärte am Freitag im Landgericht Stuttgart, es sei nicht zu klären, ob der Inspekteur in der Nacht zum 13. November 2021 die jüngere Kollegin vor einer Stuttgarter Bar genötigt habe, ihn intim zu berühren. Nach Einschätzung des Gerichts sei der Austausch von Zärtlichkeiten in der Bar "einverständlich". Dies zeige das Überwachungsvideo aus der Kneipe. Die Polizistin, die in den höheren Dienst befördert werden wollte, sei "geschmeichelt" vom Interesse des Inspekteurs gewesen.

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Im Zweifel für den Angeklagten

Richter Peterke erklärte zudem am Freitag: "Es liegt eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vor." Die Gefahr eines falschen Urteils sei deswegen besonders hoch. Es gebe besondere Anforderungen an die Beweise. Der Grundsatz "in dubio pro reo" (zu Deutsch: Im Zweifel für den Angeklagten) liege hier vor, auch wenn der Angeklagte vor Gericht die Aussage verweigert hat.

Das Gericht hält die Aussage des mutmaßlichen Opfers insgesamt nicht für überzeugend. Die Hauptkommissarin habe mehrfach Erinnerungslücken geltend gemacht, etwa in der Frage, wann der Inspekteur ihr erklärt habe, dass er gern attraktiven Frauen beim Urinieren zuschaue. Auch werde nicht klar, was wann genau passiert sei vor der Bar.

Der Argumentation der Staatsanwaltschaft, das mutmaßliche Opfer habe sicher nichts erfunden, folgte das Gericht nicht. "Denn die Aussage kann auch übertrieben oder durch nachträgliche Ereignisse verzerrt sein. Und dafür gibt es hier große Anhaltspunkte." Aus Sicht des Gerichts wirkt es auch nach Rückkehr in die Bar so, dass die beiden wie vorher Zärtlichkeiten austauschen. "Vielmehr schmusen die beiden Beteiligten einverständlich weiter." Richter Peterke betonte, man erkenne auf dem Video nicht, dass die Polizistin sich - wie von ihr behauptet - ekelte. "Kein Ekel, gar kein Ekel, sondern das Gegenteil von Ekel." Stattdessen habe sie den Inspekteur gestreichelt und den Kopf auf seine Schulter gelegt. "Sie machte anhaltend mit."

Staatsanwaltschaft will das Urteil anfechten

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart will den Freispruch für den Inspekteur der Polizei vor dem Bundesgerichtshof (BGH) anfechten. Sprecher Aniello Ambrosio sagte dem SWR wenige Stunden nach dem Urteil: "Ich kann Ihnen mitteilen, dass wir Revision einlegen werden." Die Staatsanwaltschaft forderte bei einer Verurteilung des Inspekteurs eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung sowie eine Geldauflage von 16.000 Euro.

Verteidigerin spricht von "offenkundiger Falschbelastung"

Die Verteidigerin des Angeklagten, Ricarda Lang, fühlte sich nach der Urteilsverkündung bestätigt: "Dass er klar unschuldig ist, das habe ich bereits am ersten Tag gesagt und das hat jetzt ein Gericht festgestellt." Einer Aussage, die sich auf Erinnerungslücken beziehe, könne man nicht folgen. Das Gericht habe der Öffentlichkeit nun genau erklärt, dass die Aussage der Nebenklägerin eine aus ihrer Sicht "offenkundige Falschbelastung" sei. Außerdem habe sie den Eindruck gehabt, dass die Berichterstattung über ihren Mandanten "sehr negativ" war.

Innenminister Strobl: Polizei und Innenministerium haben Schaden genommen

Nach dem Urteil stellt sich die Frage, wie es mit Andreas R. beruflich weitergeht. BW-Innenminister Thomas Strobl (CDU) sagte im SWR, dass er bei seiner Meinung bleibe: "Der Inspekteur der Polizei wird nicht ins Amt zurückkehren." Nicht alles was strafrechtlich folgenlos bleibe, sei auch "in Ordnung, würdig und recht". Insbesondere an Führungspersönlichkeiten der Polizei, die für Recht und Ordnung stehe, würden hohe Anforderungen gestellt.

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Während des Prozesses seien vor diesem Kontext "nicht nachvollziehbare Sachen zu Tage getreten". Für Polizei und das Innenministerium sei durch den Strafprozess ein Schaden entstanden. Auch weil seine Probezeit noch lief, als er wegen der Vorwürfe freigestellt wurde, gilt es als unwahrscheinlich, dass Andreas R. in sein Amt zurückkehren darf. Der Landesinnenminister versprach die "rückstandslose Aufklärung" der Geschehnisse. Nun werde man Dinge neu aufbauen, "insbesondere was Werte- und Führungskultur" angeht, so Strobl. Konkrete Vorschläge dafür, will Strobl "zeitnah" vorbringen.

Disziplinarverfahren ruht vorerst weiter

Das Innenministerium will mit der Wiederaufnahme des Disziplinarverfahrens so lange warten, bis das Urteil rechtskräftig ist. In einer Mitteilung von Freitag heißt es, dass für die Fortführung des Disziplinarverfahrens die Rechtskraft und die Gründe des Urteils entscheidend seien. Unter anderem aus Datenschutz-Gründen dürfe sich das Innenministerium zu den konkreten Folgen des Urteils aktuell nicht äußern. Das Disziplinarverfahren ruhe, bis alle bei der Justiz anhängigen Verfahren abgeschlossen seien. Das Verbot des Führens der Dienstgeschäfte besteht laut Innenministerium auch nach der Urteilsverkündung fort.

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FDP fordert sofortige Wiederaufnahme des Disziplinarverfahrens

Die FDP/DVP-Fraktion hat nach der Urteilsverkündung am Freitag gefordert, dass das Disziplinarverfahren gegen Andreas R. sofort wiederaufgenommen werde. Wie die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Julia Goll mitteilte, müsse zudem der Einbehalt der Bezüge angeordnet und Andreas R. aus dem Dienst entfernt werden. "Es kann nicht angehen, dass der Inspekteur, bei dem sich der Minister selbst keine Rückkehr in den Dienst vorstellen kann, wie er im Landtag sagte, noch länger disziplinarisch unbehelligt bleibt. Dass der Inspekteur anderthalb Jahre sein volles Gehalt bezog, obwohl ein Einbehalt bis zur Hälfte rechtlich möglich gewesen wäre, stößt auf breites Unverständnis in Polizei und Bevölkerung", so Goll.

Auch der SPD-Landtagsabgeordnete Sascha Binder äußerte sich via Twitter: Innenminister Strobl könne sich jetzt nicht weiter hinter laufenden Verfahren verschanzen, sondern müsse Farbe bekennen und entscheiden, wie er mit seinem Wunsch-Inspekteur umgehe. "Eine Position mit Personalverantwortung, gleich wo, ist für diesen Mann schlicht undenkbar", so Binder im Bezug auf Andreas R.

Mit dem Urteil endet nach zahlreichen Verhandlungstagen zumindest vorläufig ein Verfahren, das bis in höchste Kreise von Polizei und Politik erhebliche Wellen schlug - und wegen dem sich seit vielen Monaten auch ein Untersuchungsausschuss im Landtag mit sexueller Belästigung und den Beförderungspraktiken bei der Polizei beschäftigt.

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