Finanzzentrum von Mumbai (Archivbild)
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Politiker werben um Indien Auf dem Weg zur neuen Supermacht?

Stand: 19.07.2023 13:45 Uhr

Indiens Wirtschaft und Bevölkerung wachsen. Politiker weltweit buhlen um diesen wichtigen Partner für Fachkräfte und politische Allianzen. Indien - neue Supermacht oder Scheinriese?

Von Antje Erhard, ARD-Finanzredaktion

In Indien geben sich derzeit hochranginge Politikerinnen und Politiker aus aller Welt die Klinke in die Hand. Nach Bundeskanzler Olaf Scholz, Finanzminister Christian Lindner und Verteidigungsminister Boris Pistorius sowie aktuell Arbeitsminister Hubertus Heil und Wirtschaftsminister Robert Habeck buhlen auch die führenden Köpfe anderer Volkswirtschaften um die aufstrebende Wirtschaftsmacht - etwa Giorgia Meloni aus Italien und Anthony Albanese aus Australien.

Gerade war US-Finanzministerin Janet Yellen zum dritten Mal in diesem Jahr in Neu-Delhi. Im Juni rollte ihr Chef, US-Präsident Joe Biden, für Indiens Premier Narendra Modi den roten Teppich in Washington aus. Das Defilee eröffnet hatte im vergangenen Jahr Chinas Präsident Xi Jinping, Indiens Wirtschaftspartner und politischer Gegner mit langer, unruhiger Grenze. Doch was wollen sie alle in Indien?

Deutschland will mehr Energie und Handel

Um weniger abhängig von China zu werden, will Deutschland stärker mit Indien kooperieren. Die Vision: mehr grüne Energie aus und mehr Handel mit Indien. Der Handel hatte in jüngster Zeit zugenommen, doch 30 Milliarden Euro Volumen sind ein Zehntel dessen, was der Handel zwischen Deutschland und China ausmacht.

Und so hofft Wirtschaftsminister Habeck auf ein Freihandelsabkommen zwischen Indien und der Europäischen Union. Partner seien nötig, damit sich die EU und Deutschland gegen China und die USA behaupten, sagte er vor seiner Indien-Reise. Deutschland ist Indiens wichtigster Handelspartner innerhalb der EU und Indien Deutschlands wichtigster Handelspartner in Süd- und Südostasien, so die ministeriale Begründung.

Deutsche Unternehmen vor Ort schätzen die politische Stabilität, aber auch die exzellenten Fachkräfte und die relativ niedrigen Lohnkosten, ergab eine Umfrage der Deutsch-Indischen Handelskammer.

USA gestalten Indiens Energiewende mit

Außerdem steht die Energie- und Klimapolitik auf dem Habeck-Programm. Und genau hier haben die USA in dieser Woche neue Pflöcke eingeschlagen: Finanzministerin Yellen bot Indien eine Zusammenarbeit an, um die Energiewende des Landes zu unterstützen.

Indien, die USA und China stoßen die meisten Treibhaus-Emissionen weltweit aus. Pro Kopf verbraucht Indien aber viel weniger Energie - nicht zuletzt, weil viele Inder noch keinen Stromanschluss haben. Das ändert sich. Die USA bieten Kapital für die Energiewende. 2070 will Indien klimaneutral sein.

Indien auf (eigene) Linie bringen?

Die Hoffnungen vieler Staaten ruhen des Weiteren darauf, dass Indiens wirtschaftliche Erholung weitergeht - und sie davon profitieren. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet, dass die Wirtschaft Indiens in diesem Jahr um 6,1 Prozent wächst und 2024 sogar um 6,8 Prozent. In dem Tempo könne das Land Deutschland als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt im Jahr 2025/26 ablösen, prognostiziert der IWF.

Wenn Politiker aus aller Welt also in Indien vorsprechen, geht es um viel: Indien hat China gerade als bevölkerungsreichtes Land der Erde abgelöst. Zudem soll das Land auch auf der politischen und wirtschaftlichen Bühne oben mitspielen, wenn es nach Premier Narendra Modi geht.

Außerdem hoffen viele Staatschefs, Indien für die gemeinsamem Linie gegen Russland im Ukraine-Krieg zu gewinnen. Bislang vergeblich: Indien enthielt sich der UN-Resolution zum Abzug russischer Truppen. Russland ist für das Land ein wichtiger Partner. So bezieht Indien russisches Öl und Gas sowie Waffen. Neben China ist Indien Hauptabnehmer russischen Öls - zu attraktiven Preisen.

Selbstbewusstes Indien

Indien ist sich seiner Rolle in der Welt wohl bewusst: "Europa muss aus dem Denkmuster herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas", hatte der Außenminister Subrahmanyam Jaishankar im März gesagt.

Bestrebungen, Indien auf die eine oder andere Seite zu ziehen, gab und gibt es immer wieder. Doch Indien richtet seine außenpolitischen Bestrebungen nach wirtschaftlichen Interessen aus. "Indien ist ein demokratisch regiertes Land, das sich aber unter der jetzigen Regierung scheinbar gefährlich nahe am Rand der Autokratien bewegt", gibt Holger Görg, Professor für Außenwirtschaft an der Christian-Albrecht-Universität zu Kiel und Leiter des Forschungsbereichs Internationaler Handel und Investitionen am Kiel Institut für Weltwirtschaft, zu bedenken.

Politisch scheint sich das Land alle Möglichkeiten offen halten zu wollen - mit Erfolg. "Mit China könnten sich die Spannungen in den nächsten Jahren natürlich weiter verstärken, wenn die wirtschaftliche Rivalität wächst.

China und Indien sehr verschieden

Nach Einschätzung von Görg sind China und Indien jedoch sehr verschieden. China sei die "Werkbank der Welt", da viele Konsumprodukte wie Elektronik, Spielzeuge und Kleidung Teile aus der Volksrepublik beinhalteten oder direkt vor Ort produziert würden. Im Verarbeitenden Gewerbe und bei Konsumgütern spiele Indien zwar keine große Rolle.

Das Land sei allerdings stark im Dienstleistungsbereich (Finanzen, IT, Software, Medizin) und hier auch international verflochten. "Mit wachsender Bedeutung der Dienstleistungen und insbesondere des Dienstleistungshandels, der nach Meinung vieler Experten in den nächsten Jahrzehnten stark wachsen wird, wird hier natürlich auch die Bedeutung Indiens stark steigen", sagt Görg.

Zudem seien die Englisch-Kenntnisse der relativ jungen, wachsenden Bevölkerung, der wachsenden Mittelschicht ein großer Vorteil, wenn es um die Einbindung in internationale Wertschöpfungsketten gehe, insbesondere bei Dienstleistungen. "Indien hat stark auf Sonderwirtschaftszonen gesetzt, die durchaus auch positive Effekte zeigen, was die Ansiedlung von Unternehmen, gerade im IT Sektor, angeht", erklärt Görg.

Bildung ist der Schlüssel

Die Bevölkerung ist laut Forschungsinstitut Pew Research mit 1,4 Milliarden unfassbar groß und wird bis 2064 womöglich 1,7 Milliarden stark sein - deutlich mehr als die Chinesen. Die meisten Inder sind jung: Mehr als 40 Prozent der Menschen in Indien sind jünger als 25. Das Durchschnittsalter liegt bei 28. Zum Vergleich: Amerikaner sind im Schnitt 38 Jahre alt, die Chinesen 39.

Aber was braucht es, um Vorteile aus der hohen Bevölkerungszahl und vor allem aus den vielen jungen Leuten zu ziehen? "Bildung ist hier das allerwichtigste", sagt Görg. Es gäbe sehr gut ausgebildete Arbeitskräfte in Indien, wie sich ja auch in den starken Wirtschaftssektoren der Volkswirtschaft (IT, Finanzdienstleistungen, Gesundheit) zeige. "Das muss aber noch ausgebaut werden, da es im Moment zumindest noch nur einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung betrifft."

China ist wirtschaftlich weit voraus

Denn wirtschaftlich ist China noch weit voraus. Indien erwirtschaftet pro Jahr Waren und Dienstleistungen von 3,4 Billionen US-Dollar, China mit 18,1 Billionen US-Dollar gut fünfmal so viel. Allerdings gelang Indien in den vergangenen Jahren ein stetiges Wirtschaftswachstum, 2022 waren es fast 7 Prozent. Nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds wächst Indien weiter - mit Raten von sechs Prozent in den nächsten Jahren. Dagegen werden für China eher sinkende Wachstumsraten zwischen drei und fünf Prozent prognostiziert.

Indiens Wirtschaft wächst also schneller - die Bürokratie geht indes nur langsam zurück. Erst kürzlich scheiterten Verhandlungen über ein Chip-Werk von Apple-Zulieferer FoxConn in Indien. Für ausländische Investoren scheint die Bürokratie nach wie vor ein Hemmnis zu sein. Und nicht nur das.

Katastrophale Infrastruktur

Wer je in Indien war, weiß, wie weit zurück die Infrastruktur ist. Eine Lawine von Fahrrädern, Mofas, Autos, Rikschas und Tuktuks holpert über löchrige Straßen - stets darauf bedacht, den heiligen Kühen auszuweichen. Nur die Hälfte der Straßen ist überhaupt asphaltiert - in schlechtem Zustand. Züge sind überfüllt bis zum Dach. Die meisten Verkehrstoten der Welt gibt es in Indien.

Zwar wird die Infrastruktur ausgebaut; 10.000 Kilometer Schnellstraßen sollen pro Jahr entstehen. Das ist fast so viel wie Deutschlands gesamtes Autobahnnetz. Rund 100 Flughäfen werden gebaut. Doch das kostet: 1,2 Billionen Dollar investiert Indien bis 2025 in seine Infrastruktur. Ziel ist es, die hohen Logistikkosten zu senken. Nach Angaben des Ministeriums für Transport machen Transport- und Logistikkosten 16 Prozent des BIP aus. Zum Vergleich: In China sind es zehn Prozent.

Aufbruchstimmung, aber...

Woher kommt aber dann die Attitüde von der neuen Supermacht Indien, die auch hier überall zu hören und zu lesen ist? Konjunktur-Experte Holger Görg beschreibt es so: "Indien ist das bevölkerungsreichste Land der Welt und eines der am schnellsten wachsenden. Außerdem hat es eine expandierende Mittelschicht der Bevölkerung - das bedeutet eine Reduzierung der Armut in der Bevölkerung - mit wachsendem Konsum."

Zusätzlich sei eine der Landessprachen Englisch, was die internationale Verflechtung der Wirtschaft vereinfache, so Görg. "Daher: Ja, auf jeden Fall hat es mittel- bis langfristig das Zeug dazu, eine wirtschaftliche Supermacht zu werden."

Zweitstärkste Volkswirtschaft 2075?

Die Investmentbank Goldman Sachs erwartet, dass Indien bis 2075 die USA überholt und zur zweitstärksten Volkswirtschaft der Welt aufsteigt. Indien habe mehr Fortschritte in den Bereichen Innovation und Technologie gemacht, als manche vielleicht denken. "Die große Bevölkerung Indiens stellt eindeutig eine Chance dar, die Herausforderung besteht jedoch darin, die Arbeitskräfte produktiv zu nutzen, indem die Erwerbsquote erhöht wird und diese Arbeitskräfte qualifiziert werden", sagt Santanu Sengupta, Wirtschaftsexperte Indien bei Goldman Sachs Research.

Auf dem Weg - aber überschätzt?

Doch trotz aller Fortschritte: Schon mehrmals war Indien auf dem Sprung zu wirtschaftlicher Stärke. Aber Korruption, Bürokratie und Infrastruktur hielten Investoren immer wieder zurück. Indien-Experten wie der Wirtschaftshistoriker Ashoka Mody warnen seit längerem davor, Indien zu überschätzen: Der Staat schaffe es bis dato nicht, genügend Stellen für die schnell wachsende Bevölkerung zu schaffen. So seien auf offene 35.000 Stellen bei der Bahn gut zwölf Millionen Bewerbungen eingegangen.

Viele Inder kehren daher frustriert aufs Land zu ihren Familien zurück. Dort gibt es Arbeit. Corona verschärfte die Abwanderung zusätzlich. Und nicht nur die eigenen Landsleute sind frustriert: Auch Unternehmen, die aus China abwandern, gehen nicht zwangsläufig nach Indien. Thailand, Vietnam und Indonesien sind harte Wettbewerber.

Zwar sei Indien mit dem Fokus auf Dienstleistungen ziemlich einzigartig, erklärt Görg, "doch die anderen Länder fischen im gleichen Pool der Konsumgüterproduktion". Indien sei relativ wenig in diese globalen Wertschöpfungsketten zur Konsumgüterproduktion eingebettet, dafür aber ein wichtiger Exporteur von Dienstleistungen.

Derzeit ist Indien auf einem stabilen Weg. Ob das nachhaltig ist oder Indien der viel zitierte Scheinriese bleibt, zeigt sich wohl erst in ein paar Jahren.