Erdogan grüßt Anhänger in Ankara (Türkei) vor der Vorstellung des Wahlprogramms der AKP
analyse

Land in der Krise Wie es um die türkische Wirtschaft steht

Stand: 09.06.2023 11:41 Uhr

Unmut über die Wirtschaftskrise könnte den Ausgang der Wahl in der Türkei mit entscheiden. Die hohe Inflation und eine schwache Währung belasten die Bevölkerung, das Vertrauen von Investoren ist verloren gegangen.

Die wirtschaftliche Lage des Landes spielt bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei offensichtlich eine sehr große Rolle - möglicherweise die entscheidende. Die steigenden Preise haben den täglichen Bedarf verteuert. Breite Bevölkerungsschichten haben Schwierigkeiten, das Nötigste einzukaufen. Der Preis für ein Kilo Zwiebeln in der Hauptstadt Ankara hat sich innerhalb der letzten 18 Monate verfünffacht.

Die Lira ist auf Talfahrt und hat seit 2021 gegenüber dem Euro die Hälfte ihres Wertes verloren, die Teuerung liegt bei rund 44 Prozent. Im Oktober 2022 erreichte sie mit einer Inflationsrate von über 80 Prozent ihren Höhepunkt.

Statt sich unter die "Top Ten" der weltgrößten Wirtschaftsnationen vorzuarbeiten - wie das angekündigte Ziel des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan war - ist die Türkei in der Rangliste von Platz 17 auf 19 abgerutscht. Das prophezeite Pro-Kopf-Einkommen von 25.000 Dollar wurde nicht erreicht, stattdessen ist es von 11.300 auf 9300 Dollar gesunken. Verschärft wurde die Situation durch das Erdbeben im Süden der Türkei im Februar, bei dem mehr als 50.000 Menschen ums Leben kamen und drei Millionen vertrieben wurden.

Vertrauensverlust der Lira

"Das fehlende Vertrauen in die türkische Lira, sowohl von Türken als auch von ausländischen Investoren, hat die Währung weiter geschwächt. Die aus Sicht der meisten Experten falschen Eingriffe des Präsidenten in die Geldpolitik haben das Vertrauen zusätzlich untergraben", sagt der Experte Janis Hübner von der Dekabank.

Experten der US-Bank JPMorgan rechnen damit, dass die türkische Währung nach der Wahl sogar noch stärken fallen könnte - auf den Kurs von 30 türkische Lira für einen Dollar. Im Moment steht der Kurs bei rund 20 Lira.

Rasant wachsende Schulden

Präsident Erdoğan hat versucht, dem wirtschaftlichen Niedergang entgegenzuwirken. Seine Maßnahmen: Das Anhäufen von Schulden und Zinssenkungen. Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) hat sich die Staatsverschuldung der Türkei in den vergangenen fünf Jahren mehr als vervierfacht - auf zuletzt rund 250 Milliarden Dollar. Bereits für 2027 prognostiziert der IWF Schulden von mehr als 1,2 Billionen Dollar.

Den Leitzins hat die Zentralbank seit September 2021 um 10 Prozentpunkte gesenkt. Das Problem der Inflation hat sich seitdem noch weiter verschärft. Nach gängiger ökonomischer Lehrmeinung wären eigentlich deutliche Zinserhöhungen erforderlich, um die wirtschaftliche Aktivität abzukühlen und die Inflation einzudämmen.

Doch Präsident Erdoğan lehnt diese Maßnahme ab und sieht in niedrigen Zinsen eine Möglichkeit für Unternehmen, mehr zu investieren. Die damit verbundene erhöhte Kreditvergabe, die in steigende Nachfrage und somit steigenden Preise mündet, führt jedoch zu einer anhaltenden Inflationsspirale.

"Zentralbank ist nicht unabhängig"

Bei der Inflationsentwicklung spielen außerdem die Erwartungen der Marktteilnehmer eine große Rolle. Die Zinspolitik signalisiert, ob eine Notenbank ihr Inflationsziel ernstnimmt. "Die Zentralbank hat das Signal gegeben, dass da niemand ist, der die Inflation in den Griff bekommen kann und das einfach laufen lässt", sagt Hübner.

Das Hauptproblem sei das mangelnde Vertrauen von Unternehmen, Haushalten und Investoren in den Stabilitätswillen der Zentralbank. "Aber der Präsident hält daran fest, und die Zentralbank ist eben nicht unabhängig", so der Volkswirt.

Befeuert wurde die Inflation außerdem durch die massiven Preissteigerungen für Energie und Rohstoffe durch Russlands Krieg gegen die Ukraine. Hierbei könne man der Türkei wenig Vorwürfe machen.

Tourismusbranche floriert

Ein positiver Aspekt inmitten der wirtschaftlichen Krise ist die boomende Tourismusbranche. Die Rekordzahlen an Reisenden tragen auch dazu bei, dass die Türkei Deviseneinnahmen generiert. Ein Grund dafür ist auch die wiederholte Abwertung der Lira, die das Land attraktiv für Touristen gemacht hat.

Außerdem ist es im Moment beispielsweise für russische Touristen schwierig, die EU zu bereisen. "Allerdings reichen die Einnahmen aus dem Tourismus nicht aus, um das Leistungsbilanzdefizit annähernd auszugleichen", erklärt Hübner.

Wachstum und soziale Ungleichheit

Trotz der wirtschaftlichen schwierigen Situation hat die Türkei ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum erreicht. Mit einem Wachstum von elf Prozent im Jahr 2021 und drei Prozent im Jahr 2022 hat sich das Land von den Auswirkungen der Corona-Pandemie schneller erholt als viele andere Länder.

Allerdings konnten große Teile der Bevölkerung davon nicht profitieren, "weil gleichzeitig die Preise so stark gestiegen sind, dass die Realeinkommen nicht mitgekommen sind", so Hübner. Profitiert hätten diejenigen, die einen "Investitionsschutz" in Form hoher Sachvermögen besäßen, beispielsweise Immobilien. Auch einzelne Unternehmen konnten ihre Gewinne steigern.

Für das laufende Jahr lag die Wachstumsprognose ursprünglich bei rund 3,5 Prozent. Analysten von Goldman Sachs gehen jedoch davon aus, dass die direkten Auswirkungen des Erdbebens rund einen Prozentpunkt des Bruttoinlandsprodukts kosten könnten.

Hohe Auslandsverschuldung

Die größte Herausforderung für die türkische Wirtschaft besteht laut Hübner darin, das Vertrauen in die Lira wiederherzustellen. Angesichts des hohen Leistungsbilanzdefizits, der hohen Auslandsverschuldung und der niedrigen Währungsreserven sei dies jedoch ein schwieriger Weg - unabhängig von der zukünftigen Regierung und der Zentralbank, die sich dieser Aufgabe stellen müssten.

Die derzeitige Regierung unterstützt die Bevölkerung mit Energiehilfen in Milliardenhöhe und hat zu Beginn des Jahres den Mindestlohn um 55 Prozent und die Gehälter der Beamten um 30 Prozent erhöht. Die Zentralbank hat im vergangenen Jahr Devisen im Wert von mindestens 100 Milliarden Dollar verkauft, um die Lira zu stützen. Diese Maßnahmen würden jedoch nur vorübergehend für eine gewisse Stabilisierung sorgen.

"Letztlich muss man jetzt relativ schnell eine starke Abwertung der Lira zulassen und gleichzeitig die Zinsen deutlich anheben. Außerdem muss die die Regierung der Zentralbank wieder Unabhängigkeit geben", so die Einschätzung Hübners.

Hilft eine neue Regierung?

Dass die jetzige Politik Investoren verunsichert, ist offensichtlich. Aber auch eine neue Regierung ist kein Allheilmittel. "Sollten wir einen Wechsel im Präsidentenamt haben, werden Investoren sich zumindest wieder stärker mit dem türkischen Markt beschäftigen", so Hübner. Was andere Bereiche der Wirtschaft anbelangt, werde auch eine Rolle spielen, wie sich das Verhältnis zur Europäischen Union in den nächsten Jahren weiter entwickle.

In der Türkei gebe es "eine ganze Reihe von Kennwerten, die nicht stimmen, und das wieder geradezurücken, wird grotesk schwierig sein", sagte Paul McNamara, ein auf Schwellenländer fokussierter Investmentdirektor bei GAM Fund Manager in London, der "Financial Times". Wer auch immer gewählt wird - die Türkei steht weiterhin vor wirtschaftlich schwierigen Zeiten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 14. Mai 2023 um 11:00 Uhr.