Mit türkischen Fahnen geschmückte Hochhäuser im Istanbuler Stadtteil Maslak
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Mehr Chancen als Risiken? Warum deutsche Firmen in der Türkei investieren

Stand: 25.06.2023 17:56 Uhr

Steigende Mindestlöhne, ein schwankender Lira-Kurs, teilweise 80 Prozent Inflation: Die Türkei hat in den vergangenen Jahren als Wirtschaftsstandort an Attraktivität eingebüßt. Dennoch sind Tausende deutsche Firmen dort aktiv.

Die nagelneuen Produktionshallen des nordrhein-westfälischen Familienunternehmens Ejot westlich von Istanbul sind hell und bieten viel Platz. Seit über 20 Jahren ist der Mittelständler in der Türkei und produziert vor allem Schrauben in allen Variationen. 25 Millionen Euro hat er in das neue Werk investiert - ein klares Bekenntnis zum Land.

"Das ist eine Größenordnung, das machen wir nicht jedes Jahr in jedem Land", sagt Ejot-Finanzchef Wolfgang Bach bei einem Werksbesuch: "Das ist fast die Hälfte des gesamten Investitionsvolumens des letzten Jahres gewesen, also eine ganz bewusste Entscheidung, wohlwissend, dass es auch Risiken dabei gibt." Doch bei dem Familienunternehmen sei man zu der Erkenntnis gekommen, dass die Chancen einer Investition in die Türkei größer seien als die Risiken.

60 Prozent mehr Lohn

Mehrere Tausend deutsche Firmen sind in der Türkei aktiv. Thilo Pahl ist Geschäftsführer der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer (AHK) in Istanbul. Er kennt die Probleme, mit denen die Firmen konfrontiert sind. "An erster Stelle wird immer der Wechselkurs genannt und die Geldpolitik. Wir haben in den letzten Jahren eine starke Abwertung der Lira erlebt. Aber in den letzten Monaten vor der Wahl hat die Lira eigentlich fast nicht mehr abgewertet und hat sich ein bisschen abgekoppelt von der hohen Inflation", sagt er.

Das widerspreche der Theorie, denn: "Eigentlich hätte die Lira weiter abwerten müssen. Das heißt für die Unternehmen, die Arbeitskosten sind gestiegen." Zudem seien die Firmen mit deutlich steigenden Lohnkosten konfrontiert: "Der Mindestlohn ist innerhalb von einem Jahr um 60 Prozent erhöht worden", so Pahl.

Zu teuer für den Weltmarkt

Und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat angekündigt, dass er weiter steigen soll. Andreas Radel ist Geschäftsführer von Ejot in der Türkei. Er muss bei dem Thema kurz durchatmen: "Das Problem bei den Mindestlöhnen ist immer, dass das eine Kaskade nach sich zieht. Mindestlöhne heben immer das unterste Lohnniveau an, man hat aber natürlich eine Lohnhierarchie im Unternehmen, und dann müssen alle gleichzeitig mit hoch." Das führe zu einer Lohnspirale im eigenen Unternehmen und zu deutlich steigenden Kosten: "Das tut dann meistens weh", so Radel.

Viele in der Türkei verdienen nur den Mindestlohn, bei Ejot aber würden alle der gut 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besser bezahlt, sagt Radel. Sie müssen gut ausgebildet sein, und das koste eben.

Die Schrauben, die hier hergestellt werden und über Förderbänder in Kartons fallen, werden in die ganze Welt verkauft. Eine stabil gehaltene türkische Währung vor den Wahlen war für viele exportorientierte Unternehmen, wie es viele deutsche in der Türkei sind, ein Problem, erklärt Thilo Pahl. Sie waren schlicht zu teuer auf dem internationalen Markt.

80 Prozent Inflation

Dazu kommt eine hohe Inflation von teils offiziell über 80 Prozent, inoffiziell noch deutlich höher. Experten kritisieren den starken Einfluss des türkischen Präsidenten auf die Notenbank und andere Faktoren. Pahl will den Sieg Erdogans bei den Wahlen Ende Mai nicht kommentieren.

Unternehmen schauten nicht auf Politiker, sondern auf die Politik: "Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass sich die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen über Nacht ändern können. Heute muss man zum Beispiel 25 Prozent der Exporterlöse in Lira umtauschen, 6 Wochen später dann sogar 40 Prozent." Diese Unsicherheit bedrohe Investitionspläne, so Pahl: "Und das ist dann ein Risikofaktor für unsere Unternehmen."

Neue Zentralbankchefin soll beruhigen

Wohl auch, um die herrschende Unsicherheit ein wenig zu beruhigen, hat Präsident Erdogan hat Hafize Gaye Erkan zur Leiterin der türkischen Zentralbank ernannt. Die Finanzmanagerin ist bereits die fünfte Zentralbankchefin in nur vier Jahren. Der internationale Druck ist groß, dass sie den bisherigen Kurs der niedrigen Zinsen ändert und die Finanzpolitik restrukturiert.

Die Ernennungen Erkans und auch des neuen Finanzministers Mehmet Simsek gelten auch als Signale an internationale Investoren, dass die Türkei in eine neue Richtung steuert. Ejot-Manager Radel: "Ich denke, die Ernennung von Mehmet Simsek ist erstmal was Gutes. Wir werden sehen, welche Maßnahmen er trifft. Er hat sich ja nur dahingehend geäußert, dass die Wirtschaftspolitik zur Orthodoxie zurückfinden muss, was auch immer das auch heißen mag."

"Die letzten 20 Jahre ging es bergauf"

Die AHK fragt regelmäßig nach der aktuellen wirtschaftlichen Lage ihrer Mitgliedsunternehmen in knapp 100 Ländern. Die Türkei liegt mit Platz vier ganz vorn, sagt AHK-Geschäftsführer Thilo Pahl: "Anders ist die Situation bei den Erwartungen über die weitere geschäftliche Entwicklung. Da rutscht die Türkei in den Keller ab." Das liege an eben jener Unsicherheit - in der Türkei wisse man nicht, was in der Wirtschaftspolitik als nächstes passiert.

Auch deutsche Unternehmer-Kollegen der Ejot-Manger Radel und Bach fragen sich, ob Investitionen in die Türkei lohnenswert sind. Bach sagt: Auf jeden Fall. "Trotz der Rahmenbedingungen, trotz der ein oder anderen Maßnahme, die uns natürlich auch gestört hat, lohnt es sich. Wenn ich für uns, Ejot, die Türkei die letzten 20 Jahre betrachte, ging es immer bergauf."

Er schätzt vor allem kurze Lieferwege und motivierte, junge und alles in allem günstige Arbeitskräfte, die dazu noch selten krank sind. Trotzdem warten die meisten interessierten deutschen Unternehmen aber im Moment erstmal noch ab.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 19. Juni 2023 um 05:25 Uhr.