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Reallohnentwicklung Kaufkraft im Jahr 2023 "annähernd gesichert"

Stand: 27.12.2023 10:33 Uhr

In den vergangenen Jahren ist die Kaufkraft der Deutschen stark gesunken. Auch 2023 war die Inflation weiter hoch. Doch zuletzt starteten die Reallöhne eine Erholung. Hält diese an?

Von Till Bücker, ARD-Finanzredaktion

Eins der großen Themen des Jahres war erneut die Inflation. Denn viele Deutsche kamen 2023 finanziell an ihre Grenzen: Einer aktuellen Umfrage der Wirtschaftsauskunftei Schufa zufolge hat ein Fünftel der privaten Haushalte seine Rücklagen aufgebraucht. Über die Hälfte der Befragten gab an, in ihrer Wahrnehmung weniger Einkommen zu haben. Zu den größten Sorgen der Menschen zählen weiterhin die hohen Preise.

Löhne hinken Preisen typischerweise hinterher

Die Inflation hat einen großen Einfluss auf die Kaufkraft der Menschen. Gemessen wird dieser Zusammenhang anhand der Reallöhne - also die Nominallöhne abzüglich der Teuerung. Der Reallohn bestimmt den Verdienst, über den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter der Berücksichtigung von Preisänderungen tatsächlich verfügen.

Seit 2020 sind die Reallöhne dem Statistischen Bundesamt (Destatis) zufolge in jedem Jahr gesunken. Das sei sehr ungewöhnlich, betont Dominik Groll, Leiter der Arbeitsmarktanalyse am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW), im Gespräch mit tagesschau.de. "Langfristig steigen die Reallöhne eigentlich in Einklang mit der Arbeitsproduktivität, die wiederum maßgeblich vom technischen Fortschritt bestimmt wird." Weil die Arbeitnehmer von Jahr zu Jahr mehr erwirtschaften, sei es gerechtfertigt, dass sie real einen höheren Lohn verdienen - normalerweise.

Denn auch 2022 sackten die Reallöhne in Deutschland nach Destatis-Angaben um satte vier Prozent ab - so stark wie noch nie seit Beginn der Berechnungen im Jahr 2008. Grund war eben die hohe Inflationsrate, die vor allem aufgrund extrem gestiegener Energie- und Lebensmittelpreise bei 6,9 Prozent lag. Die nominalen Löhne stiegen dagegen lediglich um 2,6 Prozent.

Reallöhne zuletzt seit langem wieder gestiegen

"Es ist sehr typisch, dass die Löhne den Preisen hinterherhinken - die meisten Tarifverträge haben eine Laufzeit von rund zwei Jahren", erklärt IfW-Experte Groll. In vielen Tarifbereichen seien die Verträge 2022 daher noch gültig gewesen. "Erst im Herbst 2022 fingen die Neuverhandlungen an, zunächst mit der Metall- und Elektroindustrie", so Groll.

Dabei habe man sich auf starke Lohnerhöhungen geeinigt, die aber erst Mitte 2023 umgesetzt wurden. Weil gleichzeitig auch die Inflation Stück für Stück zurückgegangen sei, habe man wieder leichte Zuwächse beim Reallohn gesehen. Tatsächlich stieg die Kaufkraft der Deutschen im zweiten Quartal dieses Jahres erstmals seit zwei Jahren wieder. Zwar fiel das Plus mit 0,1 Prozent nur minimal aus, doch der positive Trend hielt auch in den drei Sommermonaten von Juli bis September an.

Im dritten Quartal gab es laut Destatis eine Reallohnsteigerung von 0,6 Prozent. "Wir haben das Schlimmste überstanden. Vor dem Hintergrund der starken Verluste im Jahr 2022 und auch der schwachen Entwicklung während der Corona-Pandemie - Stichwort Kurzarbeit - ist man allerdings erst am Anfang der Erholung", meint Fachmann Groll.

Kaufkraft 2023 laut Experten nicht weiter gesunken

Aber immerhin: Die Abwärtsspirale konnte in diesem Jahr erst einmal durchbrochen werden. Das IfW erwartet eine Inflationsrate und Lohnsteigerungen von jeweils knapp sechs Prozent - das heißt eine Stagnation bei den Reallöhnen. "Die Kaufkraft ist erst einmal nicht weiter gesunken", resümiert Groll.

Auch das Münchener ifo-Institut geht davon aus, dass die Reallöhne nicht weiter zurückgegangen sind. "Auf Jahresfrist werden die Bruttolöhne und Gehälter je Arbeitnehmer in 2023 mit knapp sechs Prozent in etwa so stark gestiegen sein wie die Verbraucherpreise", teilt ifo-Arbeitsmarktforscher Sebastian Link tagesschau.de auf Anfrage mit.

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung rechnet dagegen mit einem leichten Reallohnverlust von 0,4 Prozent für das laufende Jahr. Die Tarifsteigerungen von 5,6 Prozent hätten die erwartete Teuerungsrate von 6,0 Prozent nicht ausgeglichen. Allerdings könne die Wirkung der oft vereinbarten steuer- und abgabefreien Inflationsausgleichsprämien von zu 3.000 Euro nicht vollständig in der Berechnung berücksichtigt werden.

Unterschiede zwischen den Lohngruppen und Branchen

"Inklusive der Steuer- und Abgabeersparnis der Inflationsprämie konnte die Kaufkraft der Beschäftigten annähernd gesichert werden", sagte der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Thorsten Schulten, tagesschau.de. Die Verluste aus den vergangenen Jahren seien aber nicht aufgeholt worden. Derzeit bewegen sich die Reallöhne demnach auf dem Niveau von 2016 - allerdings nicht für jede Bevölkerungsgruppe.

"Die sogenannte Festgelderhöhung mit Sockelbeträgen statt Prozentwerten, die in vielen Bereichen vereinbart worden ist, hat dazu geführt, dass die unteren Lohngruppen deutlich höhere Zuwächse und teils sogar Reallohngewinne hatten", so der Experte. Die Gewerkschaften hätten dadurch eine Art Ausgleich geschaffen, weil die weniger verdienenden Menschen am stärksten von den höheren Preisen betroffen seien. Die Besonderheit der Tarifrunde habe einen größeren Einbruch bei den Konsumausgaben verhindert.

Darüber hinaus gab es auch Unterschiede zwischen den Branchen. Zum einen seien die Abschlüsse 2022 niedriger gewesen als in diesem Jahr und zum anderen hätten die Gewerkschaften nicht immer die gleichen Ziele oder Verhandlungspositionen, erklärt Schulten. "Während es in den Dienstleistungsunternehmen einen Fachkräftemangel gibt, leiden die klassischen Industriebranchen unter den hohen Energiepreisen und haben mit der Transformation zu schaffen." Dort stehe also eher die Sicherung von Jobs an erster Stelle.

"Reale Chance" auf Zuwächse im kommenden Jahr

Wie es 2024 mit den Reallöhnen weitergeht, kann nur prognostiziert werden. Das ifo-Institut erwartet, dass die Bruttolöhne und Gehälter um etwa 4,3 Prozent nach oben klettern werden. Da die Inflation auf 2,2 Prozent zurückgehen dürfte, bleibe damit "ein kräftiges Reallohnplus von etwa zwei Prozent".

"Die Tariflöhne werden mit Blick auf die großen Tarifrunden im kommendem Jahr in einem ähnlichen Rahmen steigen - vielleicht etwas schwächer" meint auch WSI-Fachmann Schulten. Spannend sei aber, wie sich Dynamik bei der Inflation entwickele. "Es gibt eine reale Chance, dass es einen Reallohnzuwachs geben wird - unter der Bedingung, dass die Preise nicht unerwartet wieder hoch schießen."

Einigen Ökonomen zufolge wird die Teuerung zu Jahresbeginn jedoch erst einmal steigen. Wegen der Beschlüsse der Bundesregierung inklusive einem höherem Kohlendioxidpreis, einer Plastikabgabe und einer steigenden Steuer auf Flugtickets dürfte die Inflationsrate im Januar knapp vier Prozent betragen, heißt es von der Commerzbank. Im November war sie auf 3,2 Prozent gefallen - der niedrigste Stand seit rund zweieinhalb Jahren.

Sparmaßnahmen wohl nur einmaliger Effekt auf die Inflation

Dass die Verbraucherinnen und Verbraucher bald wieder stärker zur Kasse gebeten werden könnten, signalisiert auch eine Umfrage des ifo-Instituts. In den kommenden Monaten wollen mehr Firmen ihre Preise erhöhen. Dass die politischen Sparmaßnahmen zu wieder steigenden Teuerungsraten führen, glauben die Forschenden aber nicht. "Die genannten Beschlüsse werden den Rückgang der Inflation vielleicht bremsen, die Reallohnentwicklung dürfte aber positiv bleiben", so Arbeitsmarktexperte Link.

"Es mag sein, dass es vorübergehend einen kleinen Rückschlag gibt, aber wir prognostizieren für das kommende Jahr insgesamt eine Inflationsrate von 2,3 Prozent", sagt auch IfW-Forscher Groll. Die Lohnsteigerungen würden 5,6 Prozent betragen, sodass es einen recht kräftigen Reallohnzuwachs gebe. "2024 wird der Rückgang seit 2020 aufgeholt, von dem vor der Pandemie und der Energiekrise prognostizierten Trend ist man aber weiterhin weit entfernt."