Auszubildende zum KfZ-Mechatroniker arbeiten im Volkswagen Bildungsinstitut in Zwickau an einem vollelektrischen Audi.

Trend auf dem Arbeitsmarkt Mit Abi in die Ausbildung

Stand: 02.11.2023 15:23 Uhr

Statt Studium in eine Ausbildung: Immer mehr Abiturienten gehen diesen Weg. Das geht Kritikern zufolge zu Lasten von Hauptschulabsolventen. Experten zeichnen ein differenzierteres Bild - sehen aber Handlungsbedarf.

Architektur nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch auszuprobieren: Das war einer der Gründe, warum sich Sidney Laven nach seinem Abitur dazu entschieden hat, eine Ausbildung als Zimmerer anzufangen. Mittlerweile absolviert er sein zweites Lehrjahr bei einem Holzbaubetrieb in Rheinhessen. Es sei die richtige Entscheidung gewesen, sagt der 23-Jährige.

Draußen und mit den Händen zu arbeiten sind für ihn zwei große Vorteile gegenüber einem Bürojob. Auch als Zimmerer-Azubi sei der Kopf gefordert: "Das geometrische, das räumliche Denken ist extrem wichtig", sagt der Auszubildende. "Es ist sehr viel Mathematik." In seinem Abschlussjahrgang an der Schule war Sidney Lavens Entscheidung, eine Ausbildung zu machen, jedoch eher ungewöhnlich: "Der Großteil hat dann doch ein Studium angefangen."

Ein neuer gesellschaftlicher Trend

Doch entgegen dieser vermeintlich klassischen Laufbahn - Abitur und danach Studium - folgt auch Sidney Laven einem gesellschaftlichen Trend. Denn in den vergangenen Jahren hat sich die Zahl der jungen Menschen, die nach dem Abitur eine Ausbildung anfangen, deutlich erhöht. Nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts hatte im Jahr 2021 fast ein Drittel der angehenden Auszubildenden auch die Berechtigung, eine Universität oder Fachhochschule zu besuchen - fast sieben Prozentpunkte mehr als noch vor zehn Jahren. 

Daraus lasse sich generell jedoch nicht ableiten, dass eine Ausbildung für Abiturientinnen und Abiturienten immer attraktiver werde, meinen Experten. "Ich vertrete hier eher die These von einem statistischen Effekt", sagt Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). So nehme seit Jahren der Anteil der Hauptschüler bei den Schulabgängern stark ab, der Anteil der Studienberechtigten dagegen leicht zu.  

Sidney Laven

Sidney Laven hat wie mittlerweile viele Abiturienten nach seinem Abschluss eine Ausbildung angefangen.

Immer mehr Abiturienten im Handwerk

Dieser Effekt spiegelt sich nun auf dem Ausbildungsmarkt und in den Betrieben wider. So wie bei Bernd Süssenberger, Sidney Lavens Chef. Von den vier Auszubildenden hätten mittlerweile zwei Abitur, berichtet der Zimmerermeister. Diese Tendenz habe in den vergangenen Jahren zugenommen. "Wir hatten schon immer auch mal Abiturienten", erzählt Süssenberger. "Aber da war klar, dass sie danach noch ins Studium gehen."

Mittlerweile sei das anders: Mehr Abiturienten würden dem Handwerk treu bleiben. Das liege auch daran, dass sich die Ausbildung mitsamt den Anforderungen verändere - auch zum Negativen, vieles sei komplizierter geworden. "Wir müssen heute ja viel detailgetreuer arbeiten, weil die gesetzlichen Vorgaben so sind", sagt Süssenberger. Mit den Vorgaben kämen Abiturienten in der Regel schnell zurecht. Auf die allein setze der Betrieb aber nicht, es brauche alle Absolventen aller Schularten, so der Handwerker. Ohnehin suchen viele Betriebe händeringend Nachwuchs.

Experten sehen keinen "Verdrängungseffekt"

Doch gerade für Hauptschülerinnen und Hauptschüler werde es immer schwerer, eine Ausbildungsplatz zu bekommen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Anfang des Jahres veröffentlichte Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Der Anteil der Abiturienten, die sich statt einem Studium für eine Ausbildung entscheiden, habe dagegen deutlich zugenommen.

Einen "Verdrängungseffekt" auf dem Ausbildungsmarkt erkennt das BIBB darin aber nicht. "Es gibt Berufe, die sowohl für Hauptschüler und Hauptschülerinnen als auch für Studienberechtigte gleichermaßen von Interesse sind", sagt BIBB-Präsident Esser. "In der Regel konkurrieren diese beiden Schulabschlussgruppen aber nicht um dieselben Berufe." Bei Hauptschulabsolventen seien das vor allem Handwerksberufe wie Dachdecker oder Bäcker; bei Abiturienten etwa Ausbildungen im kaufmännischen Bereich.  

"Besonders hoch ist der Anteil der Abiturienten in eher theorielastigen Berufen in der Industrie, bei Banken und Versicherungen", sagt Markus Kiss, Ausbildungsexperte bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK). "Auch in der Medienbranche gibt es vergleichsweise viele Azubis mit Hochschulreife." Das gelte auch bei Buchhändlern, Veranstaltungskaufleuten oder Biologielaboranten. 

Unternehmen engagieren sich für Menschen mit Startschwierigkeiten

Dass es für jungen Menschen mit niedrigem Schulabschluss schwerer werde, einen Ausbildungsplatz zu finden, sieht Fachmann Kiss nicht. "Angesichts sinkender Bewerberzahlen und Tausender unbesetzter Ausbildungsplätze engagieren sich die Unternehmen mehr denn je für ihren Nachwuchs - auch und gerade für junge Menschen mit Startschwierigkeiten." Dazu zählten etwa Schülerpraktika oder Nachhilfe während der Ausbildung.

Laut einer aktuellen DIHK-Umfragen böten 80 Prozent der Betriebe solche Angebote an, um Jugendliche mit Startschwierigkeiten zu fördern oder in Ausbildung zu bringen. Kiss sieht vor allem die Schulen in der Pflicht: "Es ist erschreckend, dass die Unternehmen und verschiedene Bildungsstudien feststellen, dass das Leistungsniveau von Schülerinnen und Schülern in den Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen seit Jahren sinkt. Die Betriebe können das kaum reparieren, so sehr sie sich auch bemühen mögen."

Ausbildungsberufe hängen auch an der Konjunktur

Auch BIBB-Präsident Esser erkennt in "fundierter Berufsorientierung an den allgemeinbildenden Schulen" einen entscheidenden Schritt, um Jugendliche noch besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Ob Betriebe und Azubis auch tatsächlich zueinander finden, das hängt nach Einschätzung von Esser nicht zuletzt an der jeweiligen Wirtschaftslage.

In einer konjunkturellen Abschwungphase seien Betriebe kritisch, ob überhaupt ausgebildet werden solle, so der Experte. In einer Hochlage und bei gleichzeitigem Fachkräftemangel wiederum seien sie bereit, mehr in Nachhilfe und andere Maßnahmen zu investieren, um die Eignung von Bewerbern zu verbessern.  

Für Sidney Laven lief der Übergang von der Schule in die Ausbildung reibungslos. Seine Ausbildung wolle er abschließen, wie es danach weitergehe, das könne er noch nicht abschließend sagen. Ein Architekturstudium bleibe für ihn weiterhin interessant - nach dem Meisterbrief.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 16. Juni 2023 um 16:23 Uhr.