Eine Patientin und eine medizinische Fachkraft schauen gemeinsam auf ein Gebiss mit Zahnspange.
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Kieferorthopädie Das glänzende Geschäft mit Zahnspangen

Stand: 16.05.2024 06:04 Uhr

In Deutschland bekommen zwei von drei Kindern eine Zahnspange. Eine Recherche von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung legt nun die Gewinnmöglichkeiten in der Branche offen. Kritik gibt es auch von Kieferorthopäden.

Von Johannes Edelhoff, Markus Grill und Palina Milling, NDR/WDR

Wer internationale Vergleiche betrachtet, gewinnt schnell den Eindruck, deutsche Kinder haben die schiefsten Zähne der Welt. Während im Nachbarland Dänemark etwa 29 Prozent der Kinder eine Zahnspange bekommen, in Schweden 30 Prozent und in Norwegen 35 Prozent, bekommen hierzulande schätzungsweise 66 Prozent eine Spange verpasst.

Laut Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung sind zahlreiche Zahnspangen überteuert

J. Edelhoff, M. Grill, NDR, P. Milling, WDR, tagesschau, 16.05.2024 14:00 Uhr

Bereits vor Jahren stellte der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen fest: "Die Behandlung von Jugendlichen mit kieferorthopädischen Maßnahmen überschreitet mit über 60 Prozent alle internationalen Normwerte."

Doch bei der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) und auch bei der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) sieht man daran offenbar nichts Schlechtes. 2022 stellten die beiden Berufsverbände die "Sechste Mundgesundheitsstudie" vor, die zu einem erstaunlichen Ergebnis kommt. Demnach könne "aus medizinischen Gründen eine kieferorthopädische Behandlung (…) bei insgesamt 97,5 Prozent" der Kinder grundsätzlich angezeigt sein. Will heißen: Fast jedes Kind könnte eine Zahnspange benötigen.

Kritik an langer Behandlungszeit

Doch es gibt Widerstand, auch unter den Kieferorthopäden selbst. Einer von denen, die seit Jahren offen über das Problem sprechen, ist Henning Madsen aus Mannheim. Madsen kritisiert nicht nur die außerordentlich hohe Zahl der Zahnspangen, die in Deutschland verschrieben werden. Problematisch sei auch die lange Behandlungszeit. Rund 42 Monate dauert eine Behandlung hierzulande im Durchschnitt, teilt die KZBV auf Anfrage mit. Andere Länder, wie Österreich, schaffen das in deutlich kürzerer Zeit. 

Die lange Behandlungsdauer könnte auch an der Art und Weise liegen, wie hierzulande abgerechnet wird, vermuten Kritiker. So erhalten Kieferorthopäden in Österreich seit 2015 eine Pauschale, zur Zeit beträgt sie rund 4.400 Euro. Seit der Umstellung ist die durchschnittliche Behandlungszeit in Österreich deutlich gesunken, auf 26 Monate.

Deutsche Kieferorthopäden können auch über sehr lange Zeiträume einzelne Behandlungsschritte abrechnen. Die lange Behandlungszeit in Deutschland habe weniger medizinische Ursachen, sondern liege "eher an den Wünschen der Ärzte nach einem hohen Einkommen", vermutet deshalb Kieferorthopäde Madsen.

Gesetzliche Krankenkassen bezahlen Zahnspangen grundsätzlich

Grundsätzlich bezahlen die Gesetzlichen Krankenkassen allen Kindern bis zum 18. Lebensjahr eine Zahnspange - sofern bestimmte Fehlstellungen der Zähne diagnostiziert werden. Nach Auskunft der KZBV haben die Kassen im vergangenen Jahr im Schnitt 3.126 Euro für eine Zahnspange bezahlt.

Doch sitzen die Eltern erst mal in der Praxis, argumentieren viele Kieferorthopäden, es gebe Brackets und Bögen, die von der Kasse nicht bezahlt werden, mit denen die Behandlungszeit verkürzt werde oder weniger schmerzhaft sei. Mehrere Studien zweifeln diese Aussagen an. Eine Meta-Analyse kam 2021 zu dem Ergebnis: "Die übergroße Mehrheit" der Studien habe "keinen einzigen signifikanten Unterschied zwischen den drei Typen von Brackets gefunden".

"Große Unsicherheit in der Elternschaft"

Insgesamt rund 80 Prozent aller Eltern leisten private Zuzahlungen, das zeigt ein Gutachten im Auftrag des Gesundheitsministeriums. "Wir beobachten eine große Unsicherheit in der Elternschaft beim Thema Zahnspangen", sagt Gesa Schölgens von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. "Eltern fühlen sich nicht gut informiert von den Kieferorthopäden und fühlen sich auch oft gedrängt, kostenpflichtige Leistungen anzunehmen", sagt Schölgens, "und es ist leider oftmals eine Geschäftemacherei zu beobachten." Aus Sicht der Verbraucherzentrale, so Schölgens, seien die Kassenleistungen ausreichend.

Natalia und Alexander Z. sind dafür ein Beispiel. Im November 2022 besuchen sie die Praxis ihres Kieferorthopäden in Berlin. Die Familie hat inzwischen ihre Krankenakte angefordert und sie NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung zur Verfügung gestellt. Der Zahnarzt hat demnach bei ihrem damals zwölfjährigen Sohn eine Fehlstellung der Zähne diagnostiziert und der Familie eine feste Zahnspange empfohlen.

"Die Zahnarzthelferin hat mir Bilder von Brackets gezeigt, die die Krankenkasse anbietet", erinnert sich Natalia Z. "Auf dem Bild waren sehr große Brackets abgebildet. Und dann hat sie mir das Brackets-System von Damon angeboten. Sie hat gesagt, diese kleineren Brackets seien bequemer für die Kinder, und die Behandlung wird schneller beendet." Am Ende hat Familie Z. einer privaten Zuzahlung in Höhe von 2.430 Euro zugestimmt.

Enormes Marketing

Damon-Brackets sind sehr verbreitet, die Herstellerfirma betreibt enormes Marketing bei Ärzten. NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung haben bei verschiedenen Herstellern die Preise für Brackets recherchiert und interne Firmenunterlagen ausgewertet. Mini-Brackets aus Edelstahl gibt es demnach beispielsweise von der Firma Smiledental bereits für 59 Cent pro Stück.

Brackets mit einem eigenen Schließmechanismus, so genannte selbstligierende Brackets, sind im Einkauf für rund drei Euro zu haben. Damon ist im Vergleich dazu deutlich teurer, im Katalog des Herstellers kosten Brackets rund 25 Euro pro Stück. Tatsächlich, so zeigen es interne Unterlagen, gewährt die Firma Kieferorthopäden aber "als Standard" einen Rabatt von 40 Prozent.

Der behandelnde Zahnarzt von Familie Z. hat ausweislich der Patientenakte also knapp 24 Euro pro Bracket berechnet, zusätzlich zu den 18 Euro, die die Krankenkasse bezahlt. Fragen beantwortet der Berliner Kieferorthopäde ebenso wenig wie die Herstellerfirma Damon. Der Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden betont, dass es den Patienten frei stehe, sich für eine zuzahlungsfreie Behandlung zu entscheiden.

"Man verdient auch so gut"

Auch der Kieferorthopäde Alexander Spassov aus Greifswald kritisiert bereits lange eine Profitgier seiner Kollegen. Die meisten Kinder und Jugendlichen bekommen bei ihm eine Zahnspange auf Kassenkosten. "Man verdient auch so gut", sagt Spassov und verweist auf eine Publikation des Instituts der Deutschen Zahnärzte.

Dort ist nachzulesen, dass ein Kieferorthopäde über die Jahre hinweg eine Arbeitszeit von fünf Stunden und 23 Minuten pro Zahnspangen-Behandlung aufwendet. "Ich schaffe das sogar schneller", sagt Spassov, nämlich in etwa drei Stunden. Selbst mit der zwischen Krankenkassen und Zahnärzten verhandelten Vergütung kommt man schnell auf einen Stundenlohn von 1.000 Euro brutto."

"Zwischen 5.000 und 7.000 Euro für ihre Vorträge"

In Herrsching am Ammersee hat Kieferorthopädin Elizabeth Menzel ihre Praxis. Menzel ist eine der bekanntesten Werbeträgerinnen für Damon-Brackets, sie nennt sich selbst "Key Opinion Leaderin". Als "Meinungsführerin" hält sie vor anderen Zahnärzten Vorträge über Brackets. Der Damon-Hersteller wirbt mit Menzel auf seiner Internetseite.

Sie wolle "aufklären" und habe die Gesundheit ihrer Patienten im Blick, erklärt Menzel dazu. Dass es Studien gibt, die einen medizinischen Vorteil der Damon-Brackets bestreiten, ficht sie nicht an. Sie verweist stattdessen auf ihre jahrelange positive Erfahrung. Gleichwohl räumt sie im Gespräch mit NDR, WDR und SZ ein, dass sie jeden Monat "so zwischen 5.000 und 7.000 Euro" für ihre Vorträge bekommt, unter anderem vom Damon-Hersteller. "Aber ich werde nicht bezahlt, um das Produkt zu vermarkten, sondern ich halte Kurse."

Klaus Lieb kann darüber nur den Kopf schütteln. Der Psychiatrie-Professor an der Uniklinik Mainz beschäftigt sich seit Jahren mit Interessenkonflikten in der Medizin. 5.000 bis 7.000 Euro im Monat "würde ich als hohes Honorar bezeichnen, aus dem ein Interessenkonflikt entsteht", sagt Lieb. Zumal die Patienten auf der Website von Menzels Praxis nicht über ihre Interessenkonflikte informiert werden. "Die Gefahr, dass angesichts solcher Honorare eine Verzerrung drin ist, ist groß und zwar ganz unabhängig davon, welche Brackets tatsächlich die besten sind", sagt Lieb.