Dieses undatierte, von der griechischen Küstenwache am 14.06.2023 zur Verfügung gestellte Bild zeigt zahlreiche Menschen, auf dem Deck eines Fischerboots, das später vor Südgriechenland kenterte und sank.
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Schiffsunglück vor Griechenland Unterdrückten griechische Ermittler Beweise?

Stand: 29.06.2023 19:00 Uhr

Nach der Schiffstragödie mit mehr als 500 Toten und Vermissten vor der griechischen Küste fordern Experten international unabhängige Ermittlungen. Überlebende berichten von unterdrückten Beweismitteln und manipulierten Protokollen griechischer Ermittler.

Von Herbert Kordes, Silke Diettrich, Falah Elias, Bamdad Esmaili, Klaas van Dijken, Sara Creta, WDR

Es ist die folgenschwerste Schiffskatastrophe seit Jahren: Mehr als 500 Menschen kamen ums Leben, als ein Fischkutter mit etwa 750 Geflüchteten an Bord am frühen Morgen des 14. Juni vor der griechischen Küste sank.

Die griechische Küstenwache hatte mindestens 15 Stunden Zeit, um die Menschen zu retten, ohne dass sie wirksame Rettungsmaßnahmen einleitete. Mehr noch: Die Hinweise verdichten sich, dass die Küstenwache für das Kentern des Schiffes verantwortlich sein könnte und dass die griechischen Ermittler Beweismittel unterdrücken oder manipulieren.

Das ergeben Recherchen einer internationalen Kooperation des ARD-Magazins Monitor mit "Lighthouse Reports", "Der Spiegel", "El País", SIRAJ und "Reporters United". Überlebende und Experten fordern eine unabhängige Untersuchung.

Vorwürfe gegen griechische Küstenwache: Kentern des Flüchtlingsschiffs hätte vermutlich verhindert werden können

S. Diettrich/F. Elias/H. Kordes/B. Esmaili, WDR, tagesthemen, 28.06.2023 22:15 Uhr

15 Stunden Zeit zur Rettung

Die Rekonstruktion der Ereignisse zeigt eine Katastrophe mit Ansage, denn: Es gab viel Zeit, um das Unglück zu verhindern.

Gegen 11 Uhr: Die griechische Küstenwache erhält von der Einsatzzentrale in Rom einen Hinweis auf ein überfülltes Flüchtlingsboot vor der griechischen Küste.

12:48 Uhr: EU-Grenzschützer von Frontex filmen das Boot aus der Luft. Es ist völlig überfüllt, die Menschen tragen keine Rettungswesten. Frontex gibt die Informationen nach eigenen Angaben an die griechischen Behörden weiter.

13:50 Uhr: Erst fast drei Stunden nach der ersten Meldung schickt die griechische Küstenwache einen Helikopter zu dem Flüchtlingsboot.

15:35 Uhr: Der Helikopter sichtet das Boot. Die Küstenwache schickt erst jetzt ein Schiff zur Unglücksstelle. Es liegt allerdings in Chania (Kreta) und hat eine lange Anfahrt. Später erteilt die Küstenwache zwei Handelsschiffen den Auftrag, die Lage des Fischkutters zu beobachten und Wasser und Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen.

18:35 und 21:34: Frontex bietet der Küstenwache an, das Schiff aus der Luft zu überwachen. Die Anfragen wurden laut Frontex nicht beantwortet.

22:40 Uhr: Das Küstenwachenschiff aus Kreta trifft beim Boot mit den Flüchtlingen ein, bleibt aber "auf Distanz". Hilfe habe das Flüchtlingsboot abgelehnt, so die Küstenwache. Man habe es "unauffällig" beobachtet.

14. Juni, gegen 2:00 Uhr: Das Flüchtlingsboot sinkt. Menschen unter Deck – viele Frauen, Kinder und Jugendliche – haben keine Chance zu entkommen.

Das ergibt 15 Stunden, ohne dass eine Rettungsaktion eingeleitet wurde. Dabei hätte jedem von Beginn an klar sein müssen, dass es sich um einen Seenotrettungsfall gehandelt habe, sagt der Rechtswissenschaftler Maximilian Pichl von der Universität Kassel: "Es gab offensichtlich keine Rettungswesten an Bord. Dieses Boot war offensichtlich immer in Gefahr, seeuntüchtig zu werden", sagt er.

Führte ein Abschleppmanöver zur Katastrophe?

Schon früh gab es erste Aussagen, dass das Unglück durch die Küstenwache selbst verursacht worden sei - durch ein Abschleppmanöver. 16 Überlebende unterschiedlicher Nationalitäten bekräftigen dies in Interviews mit der Recherchekooperation in teilweise sehr detaillierten Schilderungen.

Ein Überlebender beschreibt den Hergang so: Die Küstenwache habe ein blaues Tau herüber geworfen, das am Bug des Flüchtlingsbootes befestigt worden sei. Das Schiff der Küstenwache habe dabei quer zum Flüchtlingsboot gestanden. Dann sei die Küstenwache ruckartig angefahren. Der Fischkutter habe sich nach links geneigt, die Menschen seien auf die andere Seite (Backbord) des Kutters gelaufen. Dann habe die Küstenwache eine scharfe Rechtskehre gemacht, woraufhin das Flüchtlingsboot nach rechts gekippt sei und mit dem Bug erstmals unter Wasser geraten sei. Eine starke Welle - verursacht durch die Wendemanöver der Küstenwache - habe das Boot schließlich zum Kentern gebracht.

Die griechische Küstenwache bestreitet vehement, irgendetwas mit dem Kentern des Bootes zu tun gehabt zu haben. Detailfragen beantwortet sie mit Hinweis auf die laufenden Ermittlungen nicht.

Unterdrückte Beweise, manipulierte Protokolle?

Nun sollen griechische Ermittler klären, was genau passiert ist. Die Überlebenden und Experten fordern jedoch eine international unabhängige Untersuchung. Der Grund: Man traut den griechischen Behörden objektive Ermittlungen nicht zu.

Tatsächlich gibt es schon jetzt Hinweise, die dieses Misstrauen stützen: Überlebende berichten, dass ihnen die Handys abgenommen worden seien und sie diese trotz Zusage bis heute nicht zurückbekommen hätten. Insgesamt soll es sich um 30 bis 40 Handys handeln, sagt ein Überlebender: "Ich habe alles mit dem Handy gefilmt", versichert er. "Den Moment, als sie das Seil angebracht haben, den Moment, als sie uns gezogen haben, als Menschen ertranken und das Boot nach rechts und links schwankte."

Mehr noch: Ein anderer Überlebender berichtet, dass seine Zeugenaussage - etwa über das Tau der Küstenwache am Bug des Fischkutters und über das Abschleppmanöver - sich nicht in den Vernehmungsprotokollen der Küstenwache wiedergefunden habe.

Zudem liegen der Recherchekooperation mehrere Vernehmungsprotokolle verschiedener Überlebender vor, die von unterschiedlichen Personen übersetzt wurden und doch wortgleiche Passagen enthalten, die die Küstenwache entlasten. Auf die Frage an Überlebende, ob sie glauben, dass die Überfahrt gefährlich gewesen sei, heißt es beispielsweise in drei Protokollen nahezu wortgleich: "Wir waren zu viele Menschen für so ein Boot, das Boot war alt, es gab keine Rettungswesten und die Maschine stoppte ständig. Darum sank es." Auch an vielen anderen Stellen finden sich in den Protokollen wortgleiche Passagen.

Unterdrücken und manipulieren die griechischen Behörden also Aussagen und Beweismittel? Das Außenministerium antwortet auch zu diesen Vorwürfen lediglich, dass man detaillierte Fragen wegen der laufenden Ermittlungen nicht beantworten könne.

EU stellt sich hinter Griechenland

Abgenommene Handys, manipulierte Zeugenaussagen: Die Vorwürfe wiegen schwer. Maximilian Pichl hält sie dennoch nicht für abwegig, "weil wir schon in der Vergangenheit gesehen haben, dass die griechischen Behörden alles dafür tun, dass solche Vorfälle vertuscht werden". Auch er fordert deshalb von der EU-Kommission, aktiv zu werden und die Ermittlungen nicht den Strafverfolgern in Griechenland zu überlassen: "Die Europäische Union könnte beispielsweise ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland initiieren, das dann auch vor dem Europäischen Gerichtshof landen könnte."

Das erscheint gegenwärtig jedoch eher unwahrscheinlich: Die EU-Kommission hat sich hinter die Ermittlungen durch Griechenland gestellt. Auf Anfrage der Recherchekooperation heißt es, man stehe in engem Kontakt mit den griechischen Behörden und verfolge die Entwicklung der Untersuchung. Die Koordination von Rettungsmissionen liege in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten.

Illegale Methoden

Dabei sind gerade die griechischen Grenzschutzbehörden in der Vergangenheit schon mehrfach illegaler Methoden überführt worden: Pushbacks an Land und auf See, mit denen Flüchtlinge aus den griechischen Gewässern befördert und dabei in Gefahr gebracht wurden. 2014 sind bei einer solchen Operation elf Menschen ertrunken. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte Griechenland deswegen im vergangenen Jahr verurteilt.

Der grüne EU-Abgeordnete Erik Marquardt übt scharfe Kritik an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die Kommission sei die "Hüterin der EU-Verträge" - müsse also auch über die Einhaltung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit wachen. "Wenn man näher verfolgt hat, was an den Außengrenzen in den letzten Jahren passiert und wie sich die EU-Kommission dazu verhalten hat", so Marquardt, "dann muss man einfach konstatieren, dass die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen die Hüterin des Unrechts an den Außengrenzen geworden ist".

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 28. Juni 2023 um 22:15 Uhr.