Polizisten kesseln Demonstranten in Leipzig ein.
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Der Polizeikessel von Leipzig Alles verhältnismäßig?

Stand: 09.06.2023 08:34 Uhr

Eingekesselt von der Polizei - bis zu elf Stunden lang, ohne die Möglichkeit, auf Toiletten zu gehen, ohne ausreichende Versorgung mit Wasser, auch von Polizeigewalt wird berichtet. Ein Monitor-Team begleitete die Demonstrationen in Leipzig und ging den Vorwürfen nach.

Von Lara Straatmann und Julia Regis, WDR

Schwarz vermummte Demonstrierende schmeißen Steine und Flaschen in Richtung der Polizei. Es wirkt, als könne die Lage jederzeit eskalieren. Die Polizei reagiert prompt - und kesselt knapp 1000 Menschen ein. Szenen einer Demonstration am vergangenen Wochenende in der Leipziger Südvorstadt.

Die Beamten hatten sich auf Ausschreitungen eingestellt. Es war einer der größten Polizeieinsätze der vergangenen Jahre: Tausende Polizeibeamte aus zwölf Bundesländern waren in Leipzig im Einsatz. Die Stadt wirkte wie im Ausnahmezustand.

Hintergrund der Proteste war das Urteil gegen die Leipziger Studentin Lina E. und weitere Angeklagte. Sie waren wegen Überfällen auf mutmaßliche Neonazis zu hohen Haftstrafen verurteilt worden. Die linke Szene hatte deshalb zu einem "Tag X" in Leipzig aufgerufen. Im Vorfeld wurden Demonstrationen in Solidarität mit Lina E. verboten. Diese Versammlung war genehmigt.

Auch friedliche Teilnehmer eingekesselt

Das Monitor-Team beobachtet, wie die vermummten Demonstrierenden mehrmals durch die Polizei aufgefordert werden, ihre Vermummung abzulegen. Um die Lage nicht weiter eskalieren zu lassen, so die Polizei, habe man die mutmaßlichen Randalierer dann eingekesselt. Die Kameraaufnahmen des Monitor-Teams zeigen, wie auch friedliche Demonstrierende und unbeteiligte Personen in den Polizeikessel geraten, darunter viele sehr junge Menschen, die augenscheinlich nicht dem vermummten Personenkreis zuzurechnen sind.

Etwa 1000 Menschen werden nach Angaben der Polizei eingekesselt. Bei Temperaturen unter zehn Grad werden sie teilweise die ganze Nacht festgehalten. Bis morgens um fünf, rund elf Stunden lang, müssen Menschen ausharren, ohne dass sie den Polizeikessel verlassen können. Erst nach mehreren Stunden kommt vor Ort ein Trinkwassercontainer der Stadtwerke Leipzig an.

Minderjährige unter Eingekesselten

Das Monitor-Team spricht mit Dutzenden der Eingekesselten, darunter zwei Mädchen, 14 beziehungsweise 17 Jahre alt. Sie berichten, dass die Polizei ihnen keine Toilette zur Verfügung gestellt hatte. Als notdürftige Toilette hätte ein Busch gedient, für alle Eingekesselten. "Die meisten waren halt wirklich ziemlich jung, und das ist nicht in Ordnung, die bis nachts festzuhalten", finden sie. Sie wollten ein Zeichen gegen rechts setzen, deshalb seien sie zur Demonstration gegangen, sagen sie. Angegriffen hätten sie niemanden.

Zwei Mädchen mit Maske.

Die 14 beziehungsweise 17 Jahre alten Mädchen waren ebenfalls eingekesselt.



Der Rechtswissenschaftler Clemens Arzt, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, hält das Vorgehen der Polizei für rechtlich fragwürdig: "Es gibt nicht die rechtliche Möglichkeit, 1000 Menschen einzukesseln und festzunehmen und für Stunden ohne hinreichende Versorgung festzuhalten, weil es sein könnte, dass sie an Straftaten beteiligt waren. Das ist rechtlich nicht haltbar."

Anzeigen wegen schweren Landfriedensbruchs

Nahezu alle Eingekesselten erhalten noch in der Nacht eine Anzeige, auch die beiden Mädchen. Der Vorwurf: schwerer Landfriedensbruch. "Die Voraussetzungen für einen Landfriedensbruch erfordern gewalttätige Auseinandersetzungen. Für mich ist nicht nachvollziehbar, wie man diesen Vorwurf gegenüber einer so großen Anzahl von Menschen begründen konnte", so Arzt.

Die Mutter eines 14-jährigen Jungen zeige dem Monitor-Team die Anzeige gegen ihren Sohn. Sie seien gemeinsam bei der Demonstration gewesen, erzählt sie. Ihr Sohn sei in den Kessel geraten, sie nicht. Wer in den Polizeikessel geriet, sei willkürlich passiert, wirft sie den Beamten vor: "Ich war zufällig eben fünf Meter an einer anderen Stelle." Kinder seien in dem Kessel ausgezogen worden, habe ihr Sohn berichtet. "Meinem Sohn wurde in den Slip geschaut. Das ist eines Rechtsstaats nicht würdig."

Belegen lassen sich diese Aussagen nicht. Doch auch eine andere Mutter ist schockiert über das Vorgehen der Polizei: "Das ist eigentlich das Schlimme an diesem ganzen Verhalten sowohl des Staates als auch der Polizei, dass unsere Kinder merken, sie haben einfach keine Chance. Sie sind desillusioniert. Sie sehen in der Polizei keinen Freund mehr."

Demonstranten wurden geschlagen

Ein junger Student wirft den Beamten brutale Gewalt gegen die Menschen im Polizeikessel vor: "Ich habe Leute gesehen, die wurden ins Gesicht geschlagen, und ich habe auch Leute gesehen, die wurden mit dem Knüppel geschlagen." Auch eine Kameraufnahme von Monitor zeigt mehrere Faustschläge von Polizisten gegen die Köpfe von Demonstranten im Kessel.

Auf eine Anfrage von Monitor zu den Vorwürfen antwortete die Polizeidirektion Leipzig, das lange Festhalten sei "zum Zwecke der Identitätsfeststellung für die Strafverfolgung" notwendig gewesen. Man habe Minderjährige "beschleunigt" bearbeitet. 

Das sächsische Innenministerium antwortete nicht. Man wolle die Sondersitzung des Innenausschusses am Montag im sächsischen Landtag zum polizeilichen Vorgehen abwarten. Zuvor hatte Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) in einem TV-Interview mit dem MDR den Polizeikessel jedoch verteidigt und ein Konzept gegen Linksextremismus gefordert, ähnlich wie beim Vorgehen gegen Rechtsextremisten.

Deutlich mehr rechts- als linksextremistische Kriminalität

Bislang zeigen die Zahlen des Bundeskriminalamtes jedoch weitaus mehr rechte als linke Straftaten. So wurden für das vergangene Jahr 23.493 rechte Straftaten gezählt - ein Anstieg um sieben Prozent. Dagegen stehen 6976 linke Straftaten - ein Rückgang um rund 31 Prozent. 

Monitor liegen aktuelle Zahlen des Bundesinnenministeriums für 2023 vor - etwa zu rechtsextremen und linksextremen Gefährdern, also Personen, denen zugetraut wird, schwere Gewalttaten zu verüben. Zum Stichtag 1. Juni 2023 zählt das Bundesinnenministerium neun linke Gefährder. Demgegenüber stehen 73 rechtsextreme Gefährder.

Die Anzeigen gegen die Menschen im Polizeikessel von Leipzig fließen nun in die Polizeistatistik. Zahlen, mit denen dann auch Politik gemacht wird, befürchten viele der Betroffenen, mit denen Monitor vor Ort sprechen konnte.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste in der Sendung "Monitor" am 08. Juni 2023 um 21:45 Uhr.