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"Querdenker"-Szene Täglich Tötungsaufrufe auf Telegram

Stand: 05.01.2022 05:00 Uhr

In Deutschland wird seit Tagen über vermeintliche Einzelfälle von Tötungsaufrufen aus der Querdenker-Szene diskutiert. Eine Recherche zeigt nun, dass es seit Mitte November täglich Tötungsaufrufe gibt.

Von Jan-Henrik Wiebe, funk, für tagesschau.de

Ein Bundeswehrsoldat, der Leichen über Felder verteilen will, eine Gruppe Sachsen, die Pläne schmiedet ihren Ministerpräsidenten zu töten. Eine Auswertung in geheimen und offenen Telegram-Chatgruppen zeigt, dass es seit Mitte November auf Telegram täglich Tötungsaufrufe gegen Personen aus Politik, Wissenschaft, Medizin, Behörden und Medien gibt - und sich Impfgegner offenkundig zunehmend radikalisieren. In den untersuchten Chaträumen konnten mehr als 250 Tötungsaufrufe gefunden werden.

Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisberges, da sich Telegram - anders als Twitter - nicht komplett durchsuchen lässt, sondern nur die Kanäle und Chats, in denen man selbst Mitglied ist. Die meisten Chatgruppen sind geheim und können nur mit einem Einladungslink betreten werden. Lediglich an drei Tagen Anfang November konnte in den untersuchten Chaträumen kein Tötungsaufruf gefunden werden, an dem nicht ein Galgen, eine Guillotine oder ein Strick für Politiker, Wissenschaftler, Ärzte, Polizisten, oder Journalisten gewünscht wurde.

Jan-Henrik Wiebe, funk, "Es ist sehr, sehr bedenklich was Telegram dort alles zu lässt"

tagesschau24 09:00 Uhr

Widerspruch gibt es kaum

Oftmals wurden die Tötungsaufrufe sogar unter dem mutmaßlich richtigen Namen verbreitet. Widerspruch gab es selbst in großen Chats mit über 50.000 Mitgliedern fast nie, eher wurden die aufrufenden Personen noch in ihrer Meinung bestätigt und ein Galgen oder ein Scharfschützengewehr in den Kommentaren hinterlassen.

Der Politikwissenschaftler Josef Holnburger vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMas) hält die Mordaufrufe für gefährlich. Im Gespräch mit tagesschau.de sagt er: "Menschen mit einem verschwörungsideologischen Weltbild sind eher gewillt, Gewalt einzusetzen - das wissen wir aus der bisherigen Forschung dazu, und zwar schon seit einigen Jahren." Widerspruch fände sich in der Szene selten, "auch weil man das Bild einer einheitlichen Bewegung vermitteln will".

Screenshot von Telegram mit einer Todesdrohung gegen Jens Spahn

Solche Beiträge sind Alltag in Kanälen von Corona-Leugnern.

Über Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer heißt es am 31. Dezember beispielsweise: "Kretschmer und seine Söldner [Anm. der Redaktion: Polizisten] gehören Hingerichtet [sic!] wegen Hochverrat an das Volk!!" In einem anderen Chat fragt ein User am 21. Dezember, ob er Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) "abknallen" dürfe.

Doch nicht nur Kretschmer und Buschmann sind Opfer dieser hemmungslosen Gewaltaufrufe, auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), CDU-Chef Friedrich Merz, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der amtierende Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) werden teilweise mehrfach genannt.

Screenshot von Telegram mit einem Todesaufruf

Drohungen und Hassbotschaften, die sich an Polizisten richten.

Mehr Tötungsaufrufe seit Impfpflichtdebatte

Die Auswertung und Dokumentation der Kommentare zeigt, dass insbesondere ab Mitte November die Tötungsaufrufe stark zunehmen. Nach dem 16. November gab es keinen Tag mehr ohne Tötungsfantasien in den untersuchten Kanälen. Etwa im gleichen Zeitraum begann die Debatte einer Impfpflicht und auch bei Google wird in diesem Zeitraum vermehrt nach dem Begriff gesucht.

Auffällig bei der Auswertung ist ebenfalls, dass mehr als ein Drittel der Hasskommentare aus zwei großen Telegram-Chaträumen stammt, in denen sich die Anhängerschaft von Q-Anon und anderen Verschwörungslegenden austauscht. Dort ist die Stimmung besonders aggressiv und scheinbar völlig hemmungslos. Mehr als hundertmal wird in diesen beiden Gruppen zum Tod von Menschen aufgerufen.

Gewaltaufrufe von mutmaßlichen Soldaten

Ein Telegram-Chat, in dem sich vorgebliche Soldaten und Reservisten austauschen, fällt ebenfalls durch häufige Tötungsaufrufe auf. Die fast 20 Aufrufe zur Tötung anderer Personen zeigen, dass der Ende Dezember bekannt gewordene Aufruf des Gebirgsjägers Andreas O. kein Einzelfall ist.

In einem Video hatte der Soldat aus Bad Reichenhall gedroht: "Eure Leichen wird man auf Feldern verteilen." In der "Soldaten & Reservisten"-Gruppe auf Telegram heißt es beispielsweise am 15. November über die damalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU): "Die Alte gehört abgeknallt."

Hass gegenüber Medien

Doch nicht nur Politiker werden bedroht. Auch über eine im vergangenen Jahr mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Wissenschaftsjournalistin heißt es in einer Telegram-Chatgruppe: "Wir werden auch sie eines Tages hängen […]." In einem Beitrag, der an die Drohung angehängt wurde, hatte sich die Journalistin und Moderatorin für eine Impfpflicht ausgesprochen.

Erst am Montagabend versammelten sich in Berlin Hunderte Menschen vor dem ZDF-Hauptstadtstudio und riefen "Lügenpresse"-Parolen. Das Gebäude musste laut Darstellung eines "Tagesspiegel"-Reporters von einer Polizeikette geschützt werden.

"Volksverräter an den Galgen"

Der Hass gegenüber Medien findet sich auch auf Telegram wieder. So schreibt ein User am 5. November: "Vielleicht sollten wir wirklich die ARD und das ZDF abfackeln um ihre Medienpropaganda Maschine kaputt zu machen." Ein anderer Nutzer fragt am 11. Dezember: "Warum brennen die Medien noch nicht, ich meine die Gebäuden […] wo der dreck ausgestrahlt wird?" Ein Artikel der "Süddeutschen Zeitung" wird kommentiert mit: "Macht den Propaganda Laden dem Erdboden gleich. Volksverräter an den Galgen".

Politikwissenschaftler Holnburger erklärt, dass verschwörungsgläubige Menschen, die Medien als Teil einer kleinen Gruppe sehen, die sich zu einem "absolut bösartigen Ziel" verschworen hätten. "Entsprechend verwundert es leider nicht, dass insbesondere vor Medienhäusern sich derzeit solche Demonstrationen stattfinden", so Holnburger.

Noch mehr im Fokus als Medien stehen allerdings Ärzte. "Ich hoffe die hängen sie alle auf", schreibt Nutzerin "Gisela" über einen impfenden Kinderarzt. Eine andere Telegram-Nutzerin schreibt über einen Arzt: "Dem gehört eine Kugel in den Kopf."

230 Kanäle untersucht

Für die Recherche wurden 230 Kanäle bzw. Chats auf Telegram aus rechtsextremen und Querdenker-Kreisen nach folgenden Begriffen durchsucht:

Galgen, erschießen, aufhängen, hängen, aufgehängt, aufhängt, Laterne, Laternenmast, Guillotine, abknallen, hinrichten, abfackeln, abbrennen, brennen, standrechtlich, Fensterkreuz, “Nürnberger Hinterhöfe”, Standgericht, hingerichtet, Tribunal, Kugel, Strick

In 33 Kanälen bzw. Chats gab es Treffer, die intern dokumentiert sind. Drei Beispiele wurden anonymisiert veröffentlicht, um zu zeigen, was in diesen Gruppen quasi täglich passiert.

Drohungen auch gegen Schwesig

Am Dienstag war bekannt geworden, dass das LKA in Mecklenburg-Vorpommern im Zusammenhang mit einer an Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) gerichteten Todesdrohung ermittelt. Diese wurde ebenfalls über Telegram verbreitet.

Lothar Lenz, Lothar Lenz, ARD Berlin, 05.01.2022 08:49 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 05. Januar 2022 um 09:00 Uhr.