Archivbild: Adrianne Lenker singt live am 23. April 2023 in Mailand, Italien. (Quelle: dpa/Alessandro Bremec)

Berlin Konzertkritik | Adrianne Lenker im Admiralspalast: Gänsehaut-Detektor im roten Bereich

Stand: 07.05.2024 08:35 Uhr

Schon mit 13 Jahren hat die US-Amerikanerin Adrianne Lenker ihr erstes Album veröffentlicht. Mittlerweile ist sie 32 und ein großer Name in der Indie-Folk-Szene; auch Barack Obama ist Fan. Nun trat die Musikerin im Berliner Admiralspalast auf. Von Jakob Bauer


Ganz ehrlich: Bei Singer/Songwriter-Shows besteht immer irgendwann die Gefahr, dass sie ein bisschen langweilig werden. Eine Person, eine Gitarre, nix los auf der Bühne - das kann irgendwann redundant und ermüdend werden.
 
Und noch einmal ganz ehrlich: Dieser Abend mit Adrianne Lenker im Berliner Admiralspalast ist wohl eines der eindrücklichsten Konzert-Erlebnisse, das es dieses Jahr bisher in Berlin zu erleben gab. Gäbe es einen Gänsehaut-Detektor, er hätte hier von der ersten bis zur letzten Sekunde bis in den roten Bereich ausgeschlagen.

Françoise Cactus und Brezel Göring bei einem Auftritt in Hamburg am 08.04.2024 (Quelle: dpa/jazzarchiv)
"Françoise Cactus war eher Autorin als nur Sängerin und Schlagzeugerin"

Vor drei Jahren starb die Berliner Musikerin Françoise Cactus mit 56 Jahren. Ihr Lebenspartner Brezel Göring hat ihren Nachlass in dem Band "Oh Oh Mythomanie" vereint. Am Sonntag wäre sie 60 Jahre alt geworden. Beides wird nun gefeiert.mehr

Unspektakuläres Auftreten, spektakuläres Konzerterlebnis

Aber von vorn: US-Musikerin Adrianne Lenker kommt mit Schlabber-Shirt und Hose auf die Bühne, setzt sich bescheiden auf ihren Stuhl, zwei Gitarren stehen da noch, zwei Lavalampen, das ist alles maximal unspektakulär. Und dann: Zaubert sie. Sie führt die Finger an die Saiten, kreiert von Anfang an Intimität. Es ist fast ein psychedelisches Erlebnis, man lässt sich wegtragen, in diesen Raum, den Lenker mit ihrem beeindruckend versierten und intensiven Fingerpicking auf der Gitarre aufmacht. Oft klingt es so, als würden hier mindestens zwei Gitarren gleichzeitig spielen, Solo- und Rhythmusgitarre in einem, miteinander, gegeneinander, zart und energisch.

Und in dieses Surren der Klänge legt Lenker lange Melodiebögen und Geschichten, singt mit viel Kraft und noch mehr Sensibilität. Sie teilt intime Erlebnisse, erzählt von dem Moment, an dem sie ihre Mutter das erste Mal weinen sah, findet bizarre aber zutreffende Bilder innerer Zerrissenheit, singt über Mythologisches und Religiöses und natürlich über die Liebe. "And I don’t wanna talk about anything; I don’t wanna talk about anything; I wanna kiss, kiss your eyes again; Wanna witness your eyes looking" heißt es so simpel und doch so ergreifend in Adrianne Lenkers bekanntestem Titel, dem Trennungs-Song "Anything". Und als sie diesen als letztes vor den Zugaben spielt, tropfen wahrscheinlich irgendwo im Publikum ein paar Tränchen auf den Gänsehaut-Detektor.

Show lebt von der Spontaneität

Was dieses Konzert so einnehmend macht, ist neben der Musik die Art der Darbietung. Auch wenn Lenker eine begnadete Gitarristin und Sängerin ist, die Show ist das Gegenteil von perfek durchgeplant, sie lebt von der Spontaneität. Einmal zum Beispiel bricht Lenker einen Song einfach ab und sitzt einfach nur da. Offensichtlich überlegt sie, so 15 Sekunden lang. Dann, zack, zieht sie das Kabel aus der Gitarre, lacht, nimmt die andere Gitarre, stimmt diese wiederum zwei Minuten lang und spielt einen ganz anderen Song, der ihr wohl gerade besser in die Stimmung des Raums passt. Das zeigt, wie gut Lenker auf einen Raum reagieren, ihn mit ihrer Musik formen kann. Bei einer Live-Show ist ja alles im Fluss – ein komplett durchgeplantes Konzert kann zwar auch überzeugen – aber so etwas hallt dann doch anders nach, man hat mehr das Gefühl, bei einem einzigartigen Moment dabei zu sein.

Ein Mann fotografiert am 25.04.2024 mit seinem Smartphone nach der Pressekonferenz zur Ausstellung "Modigliani. Moderne Blicke" im Museum Barberini das Bild "Auf der Seite liegender Frauenakt (2017, Öl auf Leinwand) von Amedeo Modigliani (Quelle: dpa/Soeren Stache)
"Ein Künstler voller Geheimnisse"

Skandalöse Aktbilder und Drogenkonsum: Damit wird der Künstler Amedeo Modigliani oftmals assoziiert. Dass dieses Bild zu kurz greift, will eine neue Ausstellung im Museum Barberini zeigen. Ein Gespräch mit der Museumsdirektorin Ortrud Westheider.mehr

Ein Lagerfeuer brennt im Admiralspalast

Das führt dazu, dass man sich so fühlt, als säße man gemeinsam mit ein paar Leuten am Lagerfeuer. Nur singt die Frau mit der Gitarre nicht Country Roads, sondern ein paar der vielleicht schönsten, noch dazu hochkomplexen Songs, die in den vergangenen Jahren geschrieben wurden. Später unterstützt Lenker noch der Pianist Nick Hakim, er fügt sich geschmeidig ein, tupft – manchmal leider etwas zu leise gemischt – unterstütztende Klänge in die flirrenden Gitarren-Landschaften Lenkers und singt hinreißend die zweite Stimme. "Thank your for being in this room with me", sagt Adrianne Lenker dann am Ende. Selten passt dieser Satz so gut. Denn Adrianne Lenker hat hier wirklich einen einzigartigen, in Musik und Nähe vibrierenden Raum erschaffen, den man nur sehr, sehr widerwilig wieder verlässt.

Sendung: rbb24 Inforadio, 07.05.2024, 6:55 Uhr