Claudia Pechstein bei einer Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof
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BGH urteilt Der Fall Pechstein, das Doping und die Gerichte

Stand: 07.06.2016 06:40 Uhr

Der Bundesgerichtshof entscheidet heute den Fall Claudia Pechstein. Seit Jahren kämpft Deutschlands erfolgreichste Eisschnellläuferin juristisch gegen den Internationalen Eislaufverband ISU. Pechstein verlangt Schadensersatz für ihre - aus ihrer Sicht zu Unrecht ausgesprochene - zweijährige Sperre wegen Dopings. Worum geht es und in welchem Stadium befindet sich der Streit um Doping und die Sportgerichtsbarkeit?

Von Kolja Schwartz, ARD-Rechtsredaktion

Wie kam es zur Sperre von Claudia Pechstein?

Bei der Eisschnelllauf-Weltmeisterschaft 2009 in Norwegen waren die Blutproben von Claudia Pechstein auffällig. Der Internationale Eislaufverband ISU stellte "abnormal überhöhte Retikulozytenwerte" fest und sperrte die Eisschnellläuferin daraufhin "wegen Blutdopings" für zwei Jahre. Pechstein behauptete, keine verbotenen Substanzen genommen zu haben. Die auffälligen Blutwerte seien auf eine sogenannte Blutanomalie zurückzuführen. Diese hätte sie von ihrem Vater geerbt.

Dennoch bestätigte der Internationale Sportgerichtshof (CAS) in Lausanne die Sperre. Der CAS ist ein Schiedsgericht. Die meisten Sportverbände und Sportler unterwerfen sich dem CAS, so dass er die letzte Entscheidungsinstanz in Streitfragen zum internationalen Sportrecht ist.

Warum will Claudia Pechstein Schadensersatz?

Die Sportlerin sagt: Die Sperre sei zu Unrecht ausgesprochen worden. Dadurch hätte sie einen großen Schaden in Höhe von etwa fünf Millionen Euro erlitten. Schließlich konnte sie nicht an internationalen Wettkämpfen teilnehmen und auch die wichtigen Sponsorengelder seien dadurch weggefallen. Diesen Schaden möchte sie vom ISU ersetzt haben.

Ein paar Monate nach dem Urteil des CAS, im März 2010, stützten führende deutsche Hämatologen nach einer Untersuchung Pechsteins ihre Aussage. Sie leide - genauso wie ihr Vater - an einer milden Form der "Kugelzellen-Anämie". 800.000 Menschen in Deutschland würden Merkmale dieser Anomalie tragen. Aus medizinischer Sicht sei die Sperre nach diesen Erkenntnissen haltlos, erklärte damals der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO).

Im Oktober 2010 wies das Schweizer Bundesgericht die Revision gegen das CAS-Urteil dennoch zurück. Deshalb bestreitet Pechstein jetzt seit dreieinhalb Jahren den deutschen Rechtsweg.

Entscheidet der Bundesgerichtshof darüber, ob Pechstein Geld bekommt und wie viel?

Ausdrücklich nein! Am obersten deutschen Gericht geht es erst einmal um eine Vorfrage - aber um eine sehr wichtige. Es geht darum, ob Sportler wie Pechstein überhaupt vor die deutschen Gerichte ziehen können. Ob sie sich dort gegen solche Dopingsperren wehren und Schadensersatz einklagen können. Die Richter am BGH entscheiden also "nur", ob Pechsteins Klage überhaupt zulässig ist.

Warum soll Pechsteins Klage auf Schadensersatz nicht zulässig sein?

Vor der Eisschnelllauf-Weltmeisterschaft 2009 in Norwegen unterzeichnete Pechstein eine sogenannte Wettkampfmeldung. Diese wurde allen Teilnehmern der WM vom Internationalen Eislaufverband ISU vorgelegt. Darin verpflichtete sich Pechstein zur Einhaltung der Anti-Doping-Regeln.

Außerdem enthielt die Wettkampfmeldung die Vereinbarung, bei Streitigkeiten auf die Anrufung der ordentlichen - also der ganz normalen deutschen - Gerichte zu verzichten. Stattdessen gebe es dann ein schiedsgerichtliches Verfahren vor dem Internationalen Sportgerichtshof (CAS). Weil Pechstein diese Vereinbarung selbst unterschrieben hat, ist jetzt zunächst zu klären, ob diese wirksam ist. Nur wenn das nicht der Fall wäre, könnte sie vor den deutschen Gerichten klagen.

Welche Argumente führt Pechstein ins Feld?

Zum einen sagen die Eisschnellläuferin und ihre Anwälte, dass Pechstein die Vereinbarung nicht freiwillig unterschrieben habe, sondern zur Unterschrift gezwungen war. Sie habe gar keine Wahl gehabt. Denn: Hätte sie nicht unterschrieben, hätte sie nicht an der WM teilnehmen dürfen. Es gebe auch nur einen internationalen Verband, der internationale Wettkämpfe im Eisschnelllauf organisiere, nämlich den ISU. Das heißt: Hätte Pechstein nicht unterschrieben, hätte sie ihren Sport nicht professionell ausüben können.

Darüber hinaus sei der Internationale Sportgerichtshof nicht zu vergleichen mit einem deutschen Gericht. Es gebe viele Defizite. Dadurch hätten die Sportler dort kein faires Verfahren.

Was spricht für ein einheitliches internationales Sportgericht?

Die Anwälte des ISU und manch anderer Experte warnen davor, die Sportgerichtsbarkeit infrage zu stellen. Die Autonomie des Sports sei wichtig. Bei einem internationalen Wettkampf, an dem Sportler aus vielen verschiedenen Ländern teilnehmen, würde es chaotisch werden, wenn jeder Sportler in seinem Land klagen könnte. Unterschiedliche Entscheidungen, die sich möglicherweise widersprechen, seien die Folge. Dadurch würden gerade beim Thema Doping Sportler bei ein und demselben Wettkampf möglicherweise unterschiedlich behandelt. Dies dürfe im Sinne eines fairen Wettkampfs nicht sein. Die Sportgerichtsbarkeit führe zur Chancengleichheit der Athleten bei der Wettkampfteilnahme.

Was haben die deutschen Gerichte bisher entschieden?

Das Landgericht München hatte die Klage von Pechstein abgewiesen. Das Oberlandesgericht sah das im Januar 2015 anders. Der ISU habe seine Marktmacht gegenüber der Sportlerin missbräuchlich ausgenutzt. Grundsätzlich seien solche Schiedgerichts-Vereinbarungen zwar zulässig, weil es gute Gründe für eine einheitliche Sportgerichtsbarkeit gebe. Aber: Die Neutralität des Internationalen Sportgerichtshofs CAS sei grundlegend anzuzweifeln. In erster Linie liege dies daran, dass die Bestellung der Schiedsrichter am CAS einseitig zugunsten der  beteiligten Verbände ausgestaltet sei. Dadurch erhielten die Verbände ein "strukturelles Übergewicht" in Streitigkeiten mit den Athleten.

Hat das Urteil des CAS gegen Pechstein damit keine Bedeutung mehr?

Das ist die zweite wichtige Frage, um die es am BGH geht. Pechstein hatte es ja nicht direkt an den deutschen Gerichten versucht, sondern zunächst am CAS verloren. Dieses Urteil wurde auch vom Schweizer Bundesgericht bestätigt.

Grundsätzlich müssen rechtskräftige Entscheidungen aus anderen Ländern - auch von Schiedsgerichten - in Deutschland anerkannt werden. Das gilt nur in extremen Ausnahmefällen nicht. Und zwar dann, wenn die entsprechende Entscheidung mit wesentlichen Grundsätzen des inländischen Rechts im Widerspruch stünde. Das Oberlandesgericht hat das bejaht und damit gesagt: Die deutschen Gerichte sind nicht an das bestehende Urteil des CAS gebunden. Auch diesen Schritt wird der Bundesgerichtshof überprüfen.

Was kann der Bundesgerichtshof jetzt entscheiden und wie geht es dann weiter?

Wenn der BGH die Entscheidung des Oberlandesgerichts bestätigt, ist die Sache noch lange nicht vorbei. Erst dann kann geprüft werden, ob die Sperre tatsächlich zu Unrecht verhängt wurde und ob Pechstein einen Anspruch auf Schadensersatz hat. Sollte der BGH hingegen der ersten Instanz folgen, wären die deutschen Gerichte nicht zuständig und Pechsteins Klage gescheitert.

Könnte heute die Sportgerichtsbarkeit insgesamt kippen?

Diese Aussage wäre etwas zu hoch gegriffen. Schließlich geht es erst einmal nur um eine deutsche Sportlerin. Das Urteil hätte zwar Auswirkungen für andere deutsche Sportler, auch diese könnten bei vergleichbaren Vereinbarungen dann an den deutschen Gerichten klagen. Für die Sportler in allen anderen Ländern gilt dies aber nicht.

Die internationale Sportgerichtsbarkeit wäre durch das Urteil in einem Land also keinesfalls am Ende. Aber natürlich wird es die Sportverbände in Aufruhr bringen und möglicherweise könnte das deutsche Urteil den Reformdruck auf den CAS erhöhen. Vielleicht würde man dann gewisse Defizite beheben. Ein solcher Druck würde aber natürlich nur entstehen, wenn der BGH Pechsteins Argumentation folgt.

Kann man aufgrund der BGH-Verhandlung schon sagen, ob Pechstein gewinnt?

Am 8. März 2016 fand die Verhandlung in Karlsruhe statt. Auch Pechstein war persönlich zum Bundesgerichtshof gekommen. Gute zwei Stunden stritten die Parteien. Eine Tendenz ließen die Richter am BGH aber bis zum Ende nicht erkennen.

Was sagt das neue Anti-Doping-Gesetz zur Sportgerichtsbarkeit?

Das neue Gesetz lässt in Paragraf 11 die Schiedsgerichtsbarkeit und Vereinbarungen darüber ausdrücklich zu. Eine vergleichbare Regelung gab es 2009 - zu dem hier streitigen Zeitpunkt - noch nicht. Wie die neue Norm mit dem Urteil des BGH dann zusammenpasst, ist eine der spannenden Fragen nach der Verkündung. 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 07. Juni 2016 um 10:00 Uhr.