Interview

Interview zu Bürgerprotesten "Die Arroganz der Mächtigen ist von gestern"

Stand: 04.10.2010 20:42 Uhr

Bildung, Atom, "Stuttgart 21": Die Menschen wollen mitreden. Das bürgerschaftliche Selbstbewusstsein hat sich entwickelt - oft zum Ärger der gewählten politischen Elite. Doch Einmischung ist urdemokratisch, sagt der Berliner Protestforscher Rucht im Gespräch mit tagesschau.de. Die arrogante Haltung mancher Politiker sei von gestern.

tagesschau.de: Als "wohlstandsverwöhnt" hat Baden-Württembergs Justizminister Ulrich Goll die Gegner des Bahnprojekts "Stuttgart 21" bezeichnet. Stimmt das? Erleben wir in Stuttgart einen Aufstand der Besserverdienenden?

Dieter Rucht: Es hat diesen Anschein. Aber das wäre noch kein Makel. Wir sehen hier die Mittelklasse der Gesellschaft, die ja auch als Leistungsträger hofiert wird. Sie macht sich für ein öffentliches Anliegen stark. Demokratietheoretisch ist das positiv.

tagesschau.de: Das Ende der politischen Apathie?

Rucht: Ja, zumindest in diesem Fall. Zumal der Mittelklasse ja auch vorgeworfen wird, sie mache sich nur für ihre Partikularinteressen stark - wie etwa beim Bürgerentscheid zur Schulreform  in Hamburg. Die Demonstranten in Stuttgart haben aber keinen persönlichen Vorteil - egal, ob der Bahnhof umgebaut wird oder so bleibt. Die Menschen haben durchaus Belange des Gemeinwohls im Auge. Der Protest ist nicht klientelbezogen.

Hamburg ist nicht Stuttgart

tagesschau.de: Sie würden also unterscheiden zwischen dem Protest in Hamburg gegen die Schulreform und dem Protest gegen "Stuttgart 21"?

Rucht: Häufig gibt es ja sehr selbstbezogene Proteste, etwa beim Widerstand gegen eine Müllverbrennungsanlage vor der eigenen Haustür, die an anderer Stelle durchaus gutgeheißen wird. Das ist dann eher bornierter Protest. Auch in Hamburg war es ein sozial exklusiver Protest.

tagesschau.de: Aber es besteht der Eindruck, dass es hauptsächlich die Bürgerlichen sind, die auf die Straße gehen.

Rucht: Stimmt. Die bürgerliche Mitte ist bei dem Protest in Stuttgart wohl überdurchschnittlich vertreten. Das liegt wohl auch daran, dass der klassische Hartz-IV-Empfänger andere Probleme hat, als sich um den Bahnhof zu kümmern.

tagesschau.de: Ist es inzwischen schick, auf die Straße zu gehen?

Rucht: Dafür ist der Aufwand zu groß. Wenn es um einen Klick im Internet ginge oder es reichen würde, sich bei einer einmaligen Demonstration sehen zu lassen, könnte man diesen Verdacht haben. Wenn aber die Leute mit dieser Zähigkeit Abend für Abend protestieren oder alte Planungsunterlagen studieren, dann kann man nicht von einer modischen Attitüde sprechen.

Neue Form des Bürgeraufstands?

tagesschau.de: Bildung, Atom, Rauchverbot, "Stuttgart 21": Erwartet uns diese Form des Bürgeraufstands jetzt bundesweit?

Rucht: Ich sehe keine neue Qualität. Dieses bürgerschaftliche Selbstbewusstsein hat sich seit Jahrzehnten angebahnt. Tenor: Wir mischen uns ein, wir machen nicht nur alle vier Jahre irgendwo ein Kreuzchen. Was aber stattgefunden hat, ist ein mediales Erwachen. Die Medien springen geradezu auf dieses Thema, das sie zuvor nicht gesehen haben. Verändert hat sich vor allem die öffentliche Wahrnehmung, nicht aber die Realität - jedenfalls nicht bundesweit.

Zur Person

Dieter Rucht ist Soziologie-Professor und Poltikwissenschaftler. Am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) leitete er zuletzt eine Forschungsgruppe zum Thema Zivilgesellschaft und politische Mobilisierung. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören soziale Bewegungen und politischer Protest.

tagesschau.de: Dennoch reagiert die gewählte politische Klasse völlig überfordert...

Rucht: Richtig. Es ist schon eine ziemlich arrogante Haltung, rein formal zu argumentieren und Veränderungen an dem Projekt auszuschließen, weil es einmal so beschlossen wurde. Demokratie ist ein Prozess. Und es werden doch ständig Entscheidungen revidiert oder verändert: der Transrapid, Hartz IV. Und dass sich die Bürger in ihre Belange einmischen und mitreden wollen ist doch urdemokratisch! Im Grundgesetz steht: Die Parteien wirken an der Willensbildung des Volkes mit. Da steht nicht: Die Parteien haben das Monopol auf die Willensbildung.

Elitäre und formalistische Parteipolitiker

tagesschau.de: Erleben wir hier das Gegenteil von Politikverdrossenheit?

Rucht: Es gibt in Deutschland kein wachsendes Desinteresse an Politik, das ist empirisch belegt.  Dagegen wächst die Parteienverdrossenheit, also eine Skepsis gegenüber der politischen Klasse. Der Protest, den wir jetzt erleben, ist Ausdruck der Entfremdung zwischen einem bestimmten Typus Politikern und den Bürgern.

tagesschau.de: Ein Typus Parteipolitiker, der...

Rucht: ... elitär und formalistisch an Dinge herangeht und sagt: Ich bin gewählt, also sollen die Leute gefälligst schlucken, was wir beschließen.

tagesschau.de: Die Arroganz der Mächtigen: Ist diese Haltung, diese Kommunikationsstrategie, von gestern?

Rucht: Absolut. Das ist eine altbackene Vorstellung eines repräsentativen Systems, das dringend ergänzt werden muss.

tagesschau.de: Wodurch? Was fehlt?

Rucht: Das Einbinden der Menschen, das Zuhören, das Zulassen von Einwänden, die umfassende ehrliche Information - auch über die Nachteile eines Vorhabens. Das wäre das Minimum. Nötig ist auch mehr Durchlässigkeit im Politikbetrieb, etwa über Volksbegehren. Volksentscheide auf Bundesebene müssen möglich sein.

tagesschau.de: Gegen Volksentscheide auf Bundesebene gibt es aber auch gute Argumente...

Rucht: Wenn ich das Pro und Contra abwäge, dann überwiegen meiner Ansicht nach die Vorteile.

Das Gespräch führte Wenke Börnsen, tagesschau.de