Sachsen-Anhalt, Magdeburg: Ukrainische Flüchtlinge in der Notunterkunft.
FAQ

Aufnahme in Deutschland Diesen Schutz erhalten Ukraine-Flüchtlinge

Stand: 09.03.2022 13:47 Uhr

Hunderttausende Menschen haben die Ukraine verlassen, viele Kriegsflüchtlinge suchen auch in Deutschland Schutz. Wie werden sie registriert und verteilt, warum müssen sie kein Asylverfahren durchlaufen - und wer übernimmt die Kosten?

Wie viele Geflüchtete werden kommen?

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine treibt Hunderttausende Menschen in die Flucht. Nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR flüchteten inzwischen zwei Millionen Menschen in die Nachbarländer der Ukraine, die meisten nach Polen. Es handele sich um die "am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg". Migrationsforscher Gerald Knaus hält es für möglich, dass insgesamt zehn Millionen Menschen aus der Ukraine flüchten werden. Schätzungen zufolge könnten bis zu 225.000 Kriegsvertriebene aus der Ukraine in Deutschland Schutz suchen. Das Bundesinnenministerium hält sich mit Prognosen zurück.

Migrationsforscher Gerald Knaus zur Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine nach Deutschland

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Wie viele sind bislang nach Deutschland gekommen?

Verlässliche Zahlen sind schwierig. Laut Bundesinnenministerium wurden bislang mehr als 80.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland registriert. Nach Ministeriumsangaben könnte die Zahl der eingereisten Flüchtlinge aber bereits wesentlich höher sein, da keine Grenzkontrollen stattfänden. Die meisten Menschen kommen derzeit mit Zügen und Bussen in Berlin an - zuletzt etwa 10.000 Menschen täglich. Solidarität und Hilfsbereitschaft sind enorm, die Behörden in der Hauptstadt aber inzwischen überlastet. "Berlin schafft das nicht allein", sagte die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey am Wochenende. Auch in Hamburg, Bayern und den ostdeutschen Bundesländern kommen immer mehr Menschen an, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind.

Wer kommt?

Genaue Statistiken gibt es noch nicht. Nach Medienberichten handelt es sich vor allem um Frauen und Kinder mit ukrainischer Staatsangehörigkeit, da Männer zwischen 18 und 60 Jahren ihr Heimatland nicht verlassen dürfen. Es gibt in der Ukraine aber auch Drittstaatler - etwa eine größere Gemeinschaft indischer Studenten in Kiew. Auch sie können in Deutschland Schutz bekommen - insbesondere, wenn sie einen festen Wohnsitz in der Ukraine haben.

Wie wird kontrolliert und registriert?

Mangelhafte Kontrollen und die unvollständige Registrierung von Flüchtlingen haben in der Krise 2015 in der Bevölkerung große Sorgen hervorgerufen. Im Fall der Ukraine durften Staatsbürger ohnehin bislang visafrei in die EU einreisen. Laut Innenministerium kontrolliert die Bundespolizei verstärkt "an den östlichen Binnengrenzen". Es gibt aber keine regulären Grenzkontrollen. Faeser begründete dies im Bericht aus Berlin mit "einer völlig anderen Situation als 2015". Zudem reisten überwiegend ukrainische Staatsangehörige ohnehin mit einem biometrischen Pass ein, sagte sie.

Allerdings nehmen die Forderungen nach Kontrollen zu. Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) mahnte reguläre Kontrollen an den deutschen Grenzen zu Polen und Tschechien an.

Bei der Registrierung der Geflüchteten gibt es noch kein einheitliches Vorgehen: Ukrainerinnen und Ukrainer sollten sich bei den Ausländerbehörden oder Erstaufnahmeeinrichtungen registrieren lassen. Erst mit der Registrierung erhalten die Flüchtlinge auch die sozialen Leistungen.

Werden die Flüchtlinge EU-weit verteilt?

Über die Frage nach einem Verteilungsschlüssel innerhalb Europas wird seit Jahren diskutiert - ein Ergebnis gibt es bis heute nicht. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt scheint die Frage der Verteilung aber noch nicht das drängendste Problem zu sein. "Wenn die Aufnahme so funktioniert", sagte Innenministerin Faeser vergangene Woche im Deutschlandfunk, sei kein Verteilungsschlüssel für die Aufnahme der Geflüchteten notwendig. Derzeit können Ukraine-Flüchtlinge nach Angaben Faesers vorerst selbst aussuchen, in welchem EU-Staat sie Zuflucht suchen.

"Ich glaube, dass jetzt innerhalb der Europäischen Union die Menschen aus der Ukraine vor allem dorthin gehen, wo sie viele Freunde, Verwandte und Bekannte haben", sagte sie. Zu diesen Ländern zählten etwa auch Spanien und Italien.

Gibt es eine bundesweite Koordinierung?

Nein, zumindest noch nicht. Bislang gibt es nur Zusagen des Bundes über die Verteilung von 900 Flüchtlingen aus Berlin im Bundesgebiet. Laut Bundesinnenministerium boten alle Länder an, sich an der Verteilung der Menschen zu beteiligten. Das Innenministerium habe gemeinsam mit dem Bundesverkehrsministerium und weiteren Behörden ermöglicht, dass ab Frankfurt/Oder Busse in andere Bundesländer fahren, "damit weniger Menschen in Berlin ankommen", schrieb ein Sprecher des Ministeriums. Außerdem würden bei den Bundesländern Kapazitäten abgefragt, damit die Deutsche Bahn ab sofort vom Berliner Hauptbahnhof aus Busse einsetzen könne, um weitere Flüchtlinge aus der Ukraine zu verteilen.

Welchen Schutz erhalten die Flüchtlinge hier?

Anders als in den vergangenen Jahren müssen Kriegsflüchtlinge ihre Schutzbedürftigkeit nicht individuell in einem Verfahren beweisen. Dazu wurde eine EU-Richtlinie von Anfang 2001 aktiviert, die für den Fall eines "massenhaften Zustroms" von Vertriebenen gedacht war. Die Richtlinie wurde als Lehre aus den Jugoslawienkriegen der 1990er-Jahre entwickelt - und sollte verhindern, dass die Asylbehörden überlastet werden. Somit wird auch das Dublin-Verfahren bei diesen Schutzsuchenden nicht angewandt. "Dublin" legt fest, dass Menschen in dem Land einen Antrag auf Schutz stellen müssen, das sie als erstes in der EU betreten haben.

Der "vorübergehende Schutz" für die Menschen aus der Ukraine gilt zunächst für ein Jahr. Er kann aber um insgesamt zwei weitere Jahre verlängert werden. Personen, die bestimmte Verbrechen begangen haben oder von denen eine Gefahr ausgeht, kann der Schutz verweigert werden. Die EU-Regelung ist am 4. März in Kraft getreten, eine entsprechende Verordnung des Innenministeriums ist am 8. März im Bundesanzeiger veröffentlicht worden. Migrationsforscher Knaus nennt dies eine historische Entscheidung.

Was macht das BAMF?

Noch Anfang März ging das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht von einer großen Flüchtlingsbewegung nach Deutschland aus. Der Bund müsse auch über das BAMF dringend aktiv werden "und ein bundesweites Verteilsystem schaffen", so Bürgermeisterin Giffey. Ihren Angaben zufolge will die Behörde in dieser Woche damit beginnen, Menschen mit Bussen in andere Bundesländer zu verteilen. Zudem sollten Mitarbeiter des Amts dabei helfen, die Ukrainerinnen und Ukrainer zu registrieren. Anders als in den Jahren 2015/2016 muss sich das BAMF wegen der EU-Massenzustrom-Richtlinie nicht um Asylanträge kümmern.

Verteilung ist das eine - aber wer zahlt?

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund dringt auf schnelle Hilfen. Er erwarte, dass Bund und Länder die Versorgung der Flüchtlinge komplett finanzieren, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg. Die Kommunen bereiten demnach zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten vor, etwa in Gemeinschaftseinrichtungen und Wohnungen. Sie müssten sich aber darauf verlassen können, dass Bund und Länder anfallende Kosten kompensierten. Der Bund prüft auch, ob er aus seinen Immobilien weitere Gebäude mietfrei als Flüchtlingsunterkünfte bereitstellen kann. Landsberg schlug zudem vor, die Geflüchteten in das System der Grundsicherung einzugliedern. "Dann erhalten sie Sozialhilfe, Krankenversicherung, Hilfen für Kitas und Schulen sowie für die Arbeitsmarktintegration." Die Kosten der Grundsicherung trägt zum Großteil der Bund. Auch eine Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel ist denkbar. Er regelt, wie etwa finanzielle Lasten unter den Bundesländern verteilt werden. Für den Anteil, den ein Land danach tragen muss, sind das Steueraufkommen und die Bevölkerungszahl entscheidend.

Bundesinnenministerin Faeser hielt sich mit konkreten finanziellen Zusagen zurück. Im Bericht aus Berlin versprach sie lediglich Unterstützung, "damit die Lasten für die Länder nicht zu groß werden".

"Es ist eine völlig andere Situation als 2015": Innenministerin Nancy Faeser

Bericht aus Berlin

Welche Leistungen bekommen die Menschen?

Die Kriegsflüchtlinge erhalten zunächst vorübergehend einen sicheren Aufenthaltstitel und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die überwiegend die Länder schultern. Einen direkten Anspruch auf Hartz IV haben sie nicht. Anders als Asylsuchende sollen sie aber sofort Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt haben. Grundlage ist Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes. Hier heißt es, dass die Flüchtlinge mit vorübergehendem Schutz auf jeden Fall selbstständig tätig sein dürfen. Ein Beschäftigungsverhältnis kann ihnen erlaubt werden. 

Können ukrainische Kinder in Deutschland die Schule besuchen?

Ja, die EU-Richtlinie sieht den Zugang ins Bildungssystem des Aufnahmelandes vor. Die Bundesländer bereiten sich darauf vor, die Kinder und Jugendlichen in bestimmte Klassen aufzunehmen - in denen etwa auch Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wird.

Ist die Situation vergleichbar mit 2015?

Schon bald könnten mehr Menschen aus der Ukraine in die EU flüchten als während der Jahre 2015 und 2016 ankamen - das erwartet zumindest der Migrationsforscher Herbert Brücker. Sofern die "dramatische Entwicklung" anhalte, würde die Schwelle von 2,4 Millionen Geflüchteten übertroffen, sagte der Leiter der Migrationsforschung am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit der "Rheinischen Post". Noch nie seit den großen Vertreibungen am Ende des Zweiten Weltkriegs seien in so kurzer Zeit so viele Menschen geflohen.

Dennoch ist die Situation nicht vergleichbar mit der Krise 2015, als überwiegend syrische Kriegsflüchtlinge nach Europa und Deutschland kamen. So gibt es diesmal keinen Streit innerhalb der EU über offene Grenzen oder die Aufnahme der Geflüchteten. Alle europäischen Staaten erklärten sich bereit, Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen. Die Fluchtrouten wurden bisher nicht geschlossen, Flüchtlinge müssen sich auch nicht Schleppern anvertrauen.

Bundesfinanzminister Christian Lindner geht davon aus, dass die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine leichter zu bewältigen ist als der verstärkte Flüchtlingszuzug 2015. "Es ist zu erwarten, dass die Geflüchteten aus der Ukraine aufgrund ihrer Qualifikationen schnell und gut integriert werden können", sagte Lindner dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland". "Nach heutigem Stand werden die sozialen Folgen andere sein als bei der Flüchtlingskrise 2015."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten am 07. März 2022 Deutschlandfunk Nova um 07:50 Uhr und Deutschlandfunk um 13:20 Uhr sowie um 14:24 Uhr.