Die Schatten von Lars Klingbeil und Saskia Esken.
Analyse

Kanzlerpartei SPD Auffällig unauffällig

Stand: 28.12.2022 19:51 Uhr

Die SPD hat ihr erstes Jahr als Kanzlerpartei ohne Auffälligkeiten geschafft. Wobei: Diese Ruhe und Harmonie sind schon auffällig. Welchen Anteil hat das Führungsduo Esken und Klingbeil?

Eine Analyse von Moritz Rödle, ARD Berlin

Ganz kurz blitzt sie wieder auf, die alte SPD: Es ist ein später Sonntag im November. Die Partei trifft sich zum Debattenkonvent, eine Art kleiner Bundesparteitag. Viele Delegierte sind schon auf dem Heimweg. Da wird den verbliebenen Jusos plötzlich ihre Chance bewusst, die ungeliebte Schuldenbremse endlich dran glauben zu lassen. Die Parteispitze stemmt sich gegen einen solchen Beschluss, der den Koalitionsfrieden gefährden und die FDP in die Bredouille bringen würde. Am Ende muss Generalsekretär und Ex-Juso-Chef Kevin Kühnert seine ganze Autorität in die Waagschale werfen und sich offen gegen die Jusos stellen, die ihn einst groß machten.

Das Beispiel zeigt, wie viel sich in der SPD in den vergangenen drei Jahren verändert hat. Geschlossenheit ist jetzt wichtigste Währung und steht über allem. "Den Laden zusammenzuhalten, die vermittelnde Rolle zu haben und immer wieder auf Leute zuzugehen, sie zu überzeugen", beschreibt Parteichefin Saskia Esken im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio ihre Aufgabe.

In letzter Zeit war das aber zumindest öffentlich nicht oft nötig. Die SPD steht so einig da wie lange nicht. Weder aus den Landesverbänden noch aus der Fraktion kommen Querschüsse. Nichts ist mehr übrig von den Kämpfen, die Esken einst ins Amt brachten. Und die Parteivorsitzende hat wohl einen großen Anteil an der neuen SPD. Sie gilt immer noch als die von den Mitgliedern gewählte Parteivorsitzende. Und als solche wirkt Esken insbesondere in die Partei. Solange sie an der Spitze steht, halten auch kritischere Mitglieder die Füße still.

Debattenkonvent der SPD

Geschlossenheit ist die wichtigste Währung bei der neuen SPD: Esken, Klingbeil, Scholz und Kühnert stecken die Köpfe zusammen.

Die Haben-Seite

Die Vorsitzenden Esken und Lars Klingbeil stellten die SPD neu auf. Aus einer chronisch mit sich selbst unzufriedenen Partei machten sie wieder eine erfolgreiche Kanzlerpartei. Und nach eigenen Maßstäben hat die im ersten Jahr der neuen Regierung gleich geliefert. Auf der Habenseite stehen für die SPD zum Beispiel die Erhöhung des Mindestlohns, das höhere Kindergeld, die Wohngeldreform und natürlich das neue Bürgergeld. Außerdem verweist die Partei auf Entlastungen in dreistelliger Milliardenhöhe. Das meiste davon ist federführend im Bundesarbeitsministerium erarbeitet worden. Ressortchef Hubertus Heil gilt als SPD-Leistungsträger im Kabinett von Kanzler Olaf Scholz.

Die Soll-Seite

Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht wird wohl am häufigsten genannt, wenn über die schwächeren SPD-Ministerinnen und -Minister gesprochen wird. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie lieber Innenministerin geworden wäre. Auch nach zwölf Monaten wirkt es weiterhin so, als ob sie mit dem Amt fremdelt. Mit ihrer Abberufung muss Lambrecht derzeit trotzdem nicht rechnen. Der Kanzler schätze ihre Verlässlichkeit heißt es. Außerdem sei er nicht dafür bekannt, Personalentscheidungen beim ersten Sturm infrage zu stellen.

Kritik gibt es auch an Bundesbauministerin Klara Geywitz, die bisher wenig Spuren hinterlassen hat, oder an Gesundheitsminister Karl Lauterbach und dessen Krisenmanagement. Und wenn die eigenen Ministerinnen und Minister mehrheitlich nicht überzeugen können, kann es in der Partei noch so harmonisch laufen - bei den Wählerinnen und Wählern bekommt man dann Probleme.

Doch das erste Landtagswahljahr ist für die Kanzlerpartei überraschend gut gelaufen. Im Saarland schaffte sie sogar einen Regierungswechsel. In den bundesweiten Umfragen kommt die Partei allerdings nicht vom Fleck. Im ARD-Deutschlandtrend liefert sich die SPD ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Grünen. Beide liegen bei 18 Prozent. Der Unterschied: Die Grünen legten damit seit der Bundestagswahl deutlich zu, die SPD verlor rund ein Viertel ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer.

Der Kanzler

Erstmals seit 2005 stellt die SPD wieder einen Kanzler. Auf die Umfragewerte der Partei wirkt sich dies jedoch nicht positiv aus. Wer nach Gründen sucht, landet schnell beim Führungsstil beziehungsweise bei Scholz' Art der Kommunikation. Die Deutschen müssten sich an den neuen Kanzler noch gewöhnen, sagt Parteichef Klingbeil. Zumal der Unterschied zum Beginn der Kanzlerschaft von Angela Merkel doch deutlich sei: "Angela Merkel wurde erst in ihrem dritten Amtsjahr mit einer großen Krise, der Finanzkrise 2008, konfrontiert. Olaf Scholz führt unser Land von Tag eins an durch multiple nationale und internationale Krisen." Corona, Krieg, Energiekosten, Klima - die Krisen reihen sich in der Tat derzeit aneinander und überlappen sich zum Teil sogar.

Die Rolle in der Koalition

Und dann ist da auch noch die neuartige Regierungskonstellation. Zum ersten Mal wird Deutschland von einem Ampelbündnis regiert. Die SPD steht in vielen Fragen genau in der Mitte zwischen Grünen und FDP. Sie sieht sich auch als Mittler zwischen den Polen dieser Koalition. Das ist wohl mit ein Grund dafür, warum die Führung des Kanzlers öffentlich mitunter kaum wahrgenommen wird. Er moderiert eher im Hintergrund, um die Koalition zusammenzuhalten.

Dass dabei zuweilen der Eindruck entsteht, der Kanzler lasse der FDP zu viel durchgehen, dürfte kein Zufall sein. Der kleinste Regierungspartner hadert schließlich am meisten mit dem Bündnis. Auf die Liberalen müssen der Kanzler und seine SPD daher etwas mehr Rücksicht nehmen. Doch auch die Grünen dürfen sie dabei nicht verprellen. Wie fragil das Dreierbündnis ist und wie schwierig Kompromisse sein können, zeigte sich exemplarisch am Streit um die längeren AKW-Laufzeiten.

Die Perspektiven

2023 stehen vier Landtagswahlen an - alle mit unterschiedlichen Chancen und Risiken für die SPD. In Berlin will die Partei mit Franziska Giffey an der Spitze das rote Rathaus verteidigen. Der Wahlkampf läuft gerade an - Ausgang ungewiss. Etwas beruhigter schaut die SPD nach Bremen. Dort rechnet man fest mit einer Wiederwahl von Bürgermeister Andreas Bovenschulte.

Kompliziert wird es im Herbst in Hessen. Viel hängt davon ab, ob Bundesinnenministerin Nancy Faeser als Spitzenkandidatin antritt. Doch noch zögert sie, das Regierungsamt in Berlin gegen eine unsichere Zukunft in Hessen einzutauschen. Sollte sich Faeser für die Spitzenkandidatur entscheiden, bräuchte die SPD spätestens im Herbst eine neue Innenministerin. Eine Frau soll es wieder sein, damit die Parität im Kabinett gewahrt bleibt. Der Name Saskia Esken fällt immer mal wieder. Im Interview mit dem ARD-Hauptstadtstudio will sie sich dazu nicht mehr äußern. Im Berliner "Tagesspiegel" hatte sie den Job kürzlich noch als "spannende Aufgabe" bezeichnet.

Scholz könnte auch die Gelegenheit für eine umfangreichere Rochade nutzen. Was dagegen spricht: Ihm wird nachgesagt, im Kabinett möglichst wenig verändern zu wollen. Das spricht eher für einen Ersatz nur im Innenministerium, sollte Faeser denn tatsächlich nach Hessen wechseln.

In Bayern wird im Herbst ebenfalls gewählt. Für die SPD geht es hier darum, nicht schlechter abzuschneiden als 2018. Damals kam sie auf 9,7 Prozent.