Annalena Baerbock (l, Bündnis 90/Die Grünen) Außenministerin, und Nancy Faeser (SPD), Bundesministerin für Inneres und Heimat.
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Flüchtlingspolitik der Ampel Zwischen Wollen und Müssen

Stand: 20.06.2023 11:01 Uhr

Der EU-Asylkompromiss hat Innenministerin Faeser und Außenministerin Baerbock in Deutschland viel Kritik eingebracht. Doch die Ziele der Ampelkoalition lassen sich schwer mit den europäischen Partnern vereinen.

Eine Analyse von Bianca Schwarz, ARD Berlin

Anfang des Monats ist sie erfolgt, nach jahrelangen zähen Verhandlungen: die Einigung der EU-Innenministerinnen und -minister in Sachen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Seit diese Einigung mit ihren Einzelheiten auf dem Tisch liegt, stehen insbesondere zwei Ministerinnen des Kabinetts Scholz in der Kritik: Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne).

Faeser, weil sie härter hätte verhandeln können - die Ampel hat mehr gewollt, als Faeser am Ende herausholen konnte. Baerbock, weil sie als Grüne eine Reform mitträgt, die in großen Teilen grünen Grundwerten widerspricht - zweitrangig, dass Baerbock ihr Unbehagen damit immer wieder deutlich macht. Denn Menschenrechtler befürchten, dass sich die ohnehin oft schon untragbare Situation an den EU-Außengrenzen für Flüchtende durch die Reform noch verschärfen wird.

Wenig Unterstützung für Faeser

Bundesinnenministerin Faeser wirkte erleichtert, aber nicht ganz zufrieden, als sie nach der Einigung auf den GEAS-Kompromiss die ersten Interviews gab. Denn ihr Verhandlungsziel hatte sie nur in Teilen erreicht, insbesondere beim großen Streitpunkt Verfahren an Außengrenzen musste sie klein beigeben. Das Ziel dieser Verfahren ist es, künftig schon an den EU-Außengrenzen gezielt die Menschen zu stoppen, die ohnehin nur geringe Chancen auf Asyl in der EU haben. Sie sollen an den EU-Außengrenzen Express-Asylverfahren durchlaufen, für die sie maximal drei Monate lang festgesetzt werden dürfen.

Das bedeutet: An den EU-Außengrenzen müssten mindestens große Lager oder gar Gefängnisse gebaut werden, um die Menschen für die Dauer ihrer Express-Verfahren unterzubringen. Faesers Verhandlungsziel war es, hier eine Ausnahme für Familien mit Kindern zu erwirken: Sie sollten nicht inhaftiert werden. Mit dieser Forderung stand sie relativ allein da, nur Portugal und Luxemburg wollten die deutsche Innenministerin unterstützen. Und am Ende hat sie nachgegeben, es wird keine Ausnahmen für Familien mit Kindern geben.

Was auf dem Spiel stand

Hätte Faeser nicht zugestimmt, hätte das Ende des offenen Schengen-Raumes gedroht. Ein Europa der geschlossenen Grenzen war es, was die europäischen Nachbarn als Verhandlungsmasse in den Ring geworfen hatten. Faeser sagte nach der Einigung im tagesthemen-Interview: "Wir haben heute erreichen können, dass wir weiter ein Europa der offenen Grenzen sein können. Das wäre anders nicht zu halten gewesen, weil sich einfach alle abgeschottet hätten."

Der Preis: Zwangsläufig muss man bei diesem Thema an die Bilder aus den USA denken, an Bilder von Kindern in Käfigen, von Kindern, die mit ihren Familien die mexikanisch-US-amerikanische Grenze überquert hatten. Bilder dieser Art könnten also bald auch eine europäische Realität sein.

Kritik der Menschenrechtsorganisationen

Faeser hat immer wieder betont, dass die Express-Asylverfahren an den EU-Außengrenzen nicht für Geflüchtete aus Kriegsgebieten gelten werden. "In diese Außengrenzverfahren kommen ja nur diejenigen, die eine sehr geringe Aussicht darauf haben, bei uns zu bleiben. Alle anderen kommen durch. Das betrifft keine syrische oder afghanische Familie, die kommen wie bisher auch ganz normal zu uns."

Aus humanitärer Sicht klingt das genau richtig, immerhin will die EU ja auch Schutzraum sein. Dennoch gibt es für unwillige EU-Staaten ein Schlupfloch, kritisieren die Menschenrechtsorganisationen. Wiebke Judith ist rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl und widerspricht Faeser: Die EU-Staaten dürfen nach der Reform auch Menschen in die Grenzverfahren schicken, die über einen sicheren Drittstaat nach Europa gekommen sind.

"Das ist zum Beispiel für Griechenland relevant, weil Griechenland für alle Syrer, Afghanen, für Pakistaner und weitere Nationalitäten die Türkei als sicher erachtet", sagt Judith. "Das heißt, diese Erzählung von Nancy Faeser, Syrer und Afghanen werden nicht in Grenzverfahren landen, das ist realitätsfern."

Soll heißen: Griechenland könnte zum Beispiel eine aus Syrien über die Türkei geflüchtete Familie problemlos in die Außengrenz-Verfahren schicken und sie gegebenenfalls zurückschicken - nicht nach Syrien, aber in die Türkei.

Woher kommt der Reformdruck?

Dass es überhaupt eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems braucht, liegt an der Unzufriedenheit mit dem Verteilungsschlüssel - also der Frage, wie Geflüchtete innerhalb der EU verteilt werden. Momentan gehen die EU-Staaten dabei nicht sehr solidarisch miteinander um.

Es gilt: Das Land, in dem die geflüchtete Person ankommt, muss auch das Asylverfahren durchführen. Das belastet insbesondere Italien und Griechenland. Durch die Reform werde eine faire Verteilung zur Pflicht, jubelte Bundesinnenministerin Faeser: "Endlich gibt es eine verpflichtende Verteilung innerhalb der EU-Staaten. Das war so wichtig, das hinzubekommen."

Pro-Asyl-Sprecherin Judith ist nicht überzeugt. Kein EU-Land würde durch die Reform verpflichtet, Italien oder Griechenland auch nur eine einzige geflüchtete Person abzunehmen, sagt sie. "Man kann genauso gut Geld an Griechenland oder sogar an die Türkei zum Grenzbau zum Iran zahlen, wie einen Flüchtling aus Griechenland zu übernehmen. Dadurch werden absehbar die Probleme der Außengrenzstaaten, dass ihre Aufnahmekapazitäten überlastet sind, nicht gelöst." Ungarn und Polen haben bereits angekündigt, dass sie keinen einzigen Geflüchteten aufnehmen werden.

Vorzeichen der Europawahl 2024?

Deutschland will einiges in der Flüchtlingspolitik - es will vielen Geflüchteten helfen, es will als Inspiration innerhalb von Europa vorangehen. Allerdings scheitert die deutsche Politik in der Asylfrage an den Haltungen der europäischen Nachbarn. Und zwar nicht nur an den Nachbarn mit einer dezidiert eher rechtsgerichteten Regierung wie Italien, Ungarn, Polen oder Schweden, sondern auch an den übrigen.

Dass der Reformdruck überhaupt besteht, liegt daran, dass viele dieser Nachbarn das schon bestehende Europäische Asylsystem nicht mehr mittragen wollen, es aufweichen wollen angesichts von immer mehr Menschen, die auf ihrer Flucht nach Europa gelangen.

Dass Faeser von einigen ihrer Verhandlungsziele abgerückt ist, mag auch an einem Zeitproblem liegen: Hätten sich die EU-Mitgliedsstaaten nicht noch vor der Sommerpause auf den GEAS-Kompromiss geeinigt, wäre so schnell keine Reform mehr möglich gewesen. Denn 2024 steht erst mal die nächste Europawahl an - und viele Beobachtende befürchten, dass der Rechtsruck in Europa sich dann noch verschärfen könnte, dass eine GEAS-Reform nach der nächsten Europawahl das Recht auf Asyl noch viel stärker beschneiden könnte.

Faeser hat in den sauren Apfel gebissen, Außenministerin Baerbock hat ihn mitgeschluckt. Was Deutschland will und was Deutschland muss in der Flüchtlingspolitik - das sind zwei völlig verschiedene Dinge.

Bianca Schwarz, ARD Berlin, tagesschau, 19.06.2023 16:00 Uhr