Interview

Behindertenbeauftragte zum Thema Inklusion "Separierung hat in Deutschland Tradition"

Stand: 21.03.2015 10:03 Uhr

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im März 2009 hat sich die Bundesrepublik zu einem inklusiven Schulsystem bekannt. Das wird von den Ländern aber sehr unterschiedlich umgesetzt, sagt Verena Bentele, die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung.

tagesschau.de: Eine unbefriedigende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention - das hat das Institut für Menschenrechte Mitte März der Bundesrepublik bescheinigt. Warum ist ein Strukturwandel ausgeblieben ist?

Verena Bentele: Die Separierung von Menschen mit Behinderung hat in Deutschland Tradition. Dies trifft etwa auf den schulischen Bereich zu. Man ging tatsächlich davon aus, mit den Förderschulen, die ja auch noch untereinander nach der Art der Behinderung gegliedert sind, bessere Förderung anbieten zu können.

Die Folge war und ist, dass behinderte Menschen in Sonderwelten untergebracht sind und daher im Alltag kaum vorkommen. Das wiederum ist nach meiner Einschätzung der eigentliche Grund dafür, dass wir uns so schwertun, das bisherige System zu ändern und Menschen mit Behinderung - wie es die UN-Konvention vorsieht - als selbstverständlichen Teil der Gesellschaft anzusehen und damit entsprechend umzugehen. 

Zur Person

Verena Bentele ist seit Januar 2014 Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. Sie ist von Geburt an blind. Bentele war 16 Jahre lang Leistungssportlerin und hat zwölf Mal paralympisches Gold im Biathlon gewonnen. Bevor die studierte Literaturwissenschaftlerin zur Beauftragten ernannt wurde, war sie als Referentin im Bereich Personaltraining und -entwicklung tätig.

"Inklusion wird sehr unterschiedlich umgesetzt"

tagesschau.de: Bildung ist in Deutschland Ländersache. Das führt zu einem Flickenteppich an unterschiedlichen Schulgesetzen. Wie lässt sich das ändern?

Bentele: Die Länder sind verpflichtet, bei der Bildung die Vorgaben der UN-Konvention umzusetzen. Die Kultusministerkonferenz hat einheitliche Empfehlungen zur inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in Schulen herausgegeben. Tatsächlich wird Inklusion an allgemeinen Schulen in den Ländern aber sehr unterschiedlich umgesetzt. Wegen der Kulturhoheit der Länder ist es für den Bund nicht möglich, hier Vorgaben zu machen. Hier könnte eine Lockerung des sogenannten Kooperationsverbotes, wie es unlängst für den Hochschulbereich erfolgt ist, Möglichkeiten der Unterstützung bei der Umsetzung der Inklusion eröffnen.

"Es gibt nicht genügend pädagogisches Personal"

tagesschau.de: Der Bericht des Menschenrechtsinstituts übt Kritik an den Doppelstrukturen in Deutschland aus Regel- und Förderschulen, und das soll scheinbar so bleiben. Teilen Sie diese Kritik?

Bentele: Die Doppelstrukturen sind insofern problematisch, als sonderpädagogische Expertise nicht unbegrenzt vorhanden ist. Mit anderen Worten: Es gibt für beide Systeme nicht genügend pädagogisches Personal, das den hohen sonderpädagogischen Qualitätsstandards entspricht. Die Gefahr ist, dass Inklusion an allgemeinen Schulen nicht funktionieren kann, wenn die erforderlichen Fachleute weiter in Förderschulen gebunden sind.

Daher bin ich der Ansicht, dass der Fortbestand der Förderschulen zwar nicht grundsätzlich gegen die UN-Konvention verstößt. Allerdings dürfen die Doppelstrukturen nicht dazu führen, dass Inklusion an Regelschulen unmöglich wird, weil keine guten Bedingungen hergestellt werden können. Für mich ist entscheidend, dass Eltern die Möglichkeit haben, für ihr Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine gute inklusive Schule zu wählen.

"Finanzierungsvorbehalte in den Schulgesetzen abschaffen"

tagesschau.de: Was wäre außerdem zu tun?

Bentele: Um schulische Inklusion gut umzusetzen, müssen wir an verschiedenen Punkten ansetzen. Die Grundlage ist die Bewusstseinsbildung bei Eltern und Lehrern. Ganz wichtig ist auch die fundierte Aus- und Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer sowie des sonstigen pädagogischen Personals. Eine flächendeckende Inklusion setzt weiter voraus, dass die Finanzierungsvorbehalte in den Schulgesetzen der Länder abgeschafft werden. Der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern sollte nicht unter dem Vorbehalt stehen, dass ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Im Schulalltag sind schlussendlich die barrierefreie Gestaltung der Schulgebäude und der Lehr- und Lernmittel erforderlich.

"Einkommens- und Vermögensanrechnung abschaffen"

tagesschau.de: Im Herbst soll das Bundesteilhabegesetz verabschiedet werden. Inklusion ist ein Bestandteil. Sie sitzen in der gleichnamigen Arbeitsgemeinschaft, die an Empfehlungen arbeitet. Wofür setzen Sie sich ein?

Bentele: Das Thema schulische Inklusion ist im Zusammenhang mit dem Bundesteilhabegesetz insofern wichtig, als die Unterstützung durch eine Schulassistenz für Kinder mit Behinderung nicht von den Schulen oder Schulämtern, sondern aus Mitteln der Eingliederungshilfe, also der Sozialhilfe, gezahlt wird.

Meine Forderung nach einer Abschaffung der Einkommens- und Vermögensanrechnung greift auch hier. Denn derzeit müssen Menschen mit Behinderung Einkommen und Vermögenswerte bis auf einen Sockelbetrag aufbrauchen, bevor sie Anspruch auf Leistungen haben. Bei Eltern von Kindern mit Behinderung sieht das konkret so aus: Die erforderliche Assistenz für Kinder im Hortbereich von sogenannten offenen Ganztagsschulen müssen die Eltern überwiegend selbst finanzieren. Oft besuchen behinderte Kinder diese Art der Ganztagsschulen daher nur am Vormittag während des eigentlichen Schulunterrichts, für den die Assistenz ohne Einkommens- und Vermögensanrechnung bezahlt wird.

In den Förderschulen ist dagegen eine ganztägige Betreuung gewährleistet, ohne dass Eltern sich finanziell beteiligen müssten. Dies sind ungleiche Voraussetzungen für die Inklusion an allgemeinen Schulen, für die es eine Lösung im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes geben muss.

Das Interview führte Behrang Samsami für tagesschau.de