Der Nachkriegspass von Rigoletto Weiß
Porträt

Nazi-Verbrechen an Sinti und Roma Rigoletto Weiß hat überlebt

Stand: 02.08.2023 14:16 Uhr

Rigoletto Weiß war elf Jahre alt, als er in der Schule von den Nazis in das Vernichtungslager Belzec deportiert wurde. Das Kind aus Hamburg überlebte den Vernichtungsterror der Nazis an den Sinti und Roma.

Sein Großvater Rigoletto sei ein "liebevoller und einfühlsamer Mensch" gewesen, erinnert sich Arnold Weiß. Sein Großvater starb vor vier Jahren, aber was er erlebt hat, soll nicht in Vergessenheit geraten - das ist seinem Enkel ein Anliegen. Denn das Schicksal von Rigoletto steht beispielhaft für die Lebensgeschichte Tausender Sinti und Roma im Nationalsozialismus.

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Kristin Joachim, ARD Warschau, tagesschau, 02.08.2023 20:00 Uhr

Rigoletto Weiß wuchs auf einem Wohnwagenplatz in der Wasmerstraße im Hamburger Süden auf. "In der Community war das eine recht schöne Kindheit für ihn. Er hatte viele Freunde und ging normal zur Schule, auch wenn der gesellschaftliche Druck auf Sinti und Roma bereits zunahm", erzählt Weiß über seinen Großvater. 

Im April 1940 - Rigoletto war zu dieser Zeit gerade mal elf Jahre alt - befahl SS-Reichsführer Heinrich Himmler die Deportation von 1.000 Sinti und Roma in Hamburg. Die Hamburger Kriminalpolizei sollte dies organisieren. In den Morgenstunden des 16. Mai begann die Aktion. Die Trupps der Hamburger Kriminalpolizei fuhren an die Wohnorte der Sinti und Roma und verhafteten hier Hunderte Menschen. Rigoletto war zu diesem Zeitpunkt in der Schule.

Arnold Weiß mit einem Bild seines Großvaters Rigoletto.

"Ein liebevoller und einfühlsamer Mensch:" Arnold Weiß über seinen Großvater Rigoletto

Zusammengepfercht im "Fruchtschuppen C"

"Der Lehrer hatte am Vortag gesagt, dass am nächsten Tag nur die Sinti-Kinder zur Schule kommen sollten. Man wolle einen Ausflug mit ihnen machen", erzählt Arnold Weiß. "Dabei ging es nur darum, vor den anderen Kindern der Mehrheitsgesellschaft zu verstecken, was an dem Tag passierte." Denn im Klassenzimmer wurden die Sinti-Kinder von der Polizei festgenommen und in den Hamburger Freihafen gebracht, in den "Fruchtschuppen C".

Die Kriminalpolizei hatte die Fruchtlagerhalle für die Aktion angemietet. Hunderte Sinti und Roma aus ganz Norddeutschland wurden hier versammelt und zusammengepfercht. Vier Tage lang mussten die Menschen hier auf engstem Raum aushalten. Rigoletto fand im Gedränge seine Mutter wieder. "Er hat mir gesagt, dass er sich nur an sie festgeklammert hat", erzählt Arnold Weiß.

"Der Transport war grauenhaft"

Wenige hundert Meter vom "Fruchtschuppen C" entfernt lag zu dieser Zeit der "Hannoversche Bahnhof". Hierhin wurden die Gefangenen gebracht und in Viehwaggons gepfercht. Am 20. Mai 1940 setzte sich der Zug Richtung Belzec im von Deutschland besetzten Polen in Bewegung. "Der Transport war grauenhaft", erinnerte sich Rigoletto Weiß später. "Nach einer unendlichen Zeit sind wir angekommen. Das Gelände war einsam und leblos. Es stand eine große Sammelbaracke darauf und in diese Baracke wurden wir alle reingetrieben. Es war nicht einmal Platz für die Hälfte von uns. Zum Schlafen mussten wir uns übereinander stapeln."

Die Familie Weiß - Rigoletto unten rechts mit Gitarre

Die Familie Weiß - Rigoletto unten rechts mit Gitarre

Mutter stirbt an Typhus

Von Belzec aus wurde der junge Rigoletto Weiß in verschiedene KZ und Ghettos deportiert bis in ein Lager bei Warschau. Hier erkrankte seine Mutter an Typhus. Der Junge versuchte alles, sie zu retten, wärmte Steine am Feuer und legte sie an die Füße der fiebernden Frau. Doch sie starb. "Ich habe sie noch ein paar Tage verstecken können, aber als die SS sie gefunden hat, mussten wir sie in ein Massengrab bringen. Ab diesen Moment war ich allein", hielt er später fest. "Er wollte sie nicht loslassen", sagt sein Enkel Arnold Weiß heute. "Seine Mutter war das Letzte, was er hatte."

Zwangsarbeit und Erschießungen

Rigoletto Weiß musste schwerste Zwangsarbeit leisten. Er hub Gräben aus, schuftete in unterirdischen Stollen und musste giftige Schlacke aus riesigen Gussformen kratzen. Seinem Enkel berichtete er später von unvorstellbaren Menschenrechtsverletzungen in den Lagern - etwa von einer Massentötung in einer Krankenbaracke: "Er hat als Kind gesehen, wie alle Menschen in der Baracke erschossen wurden." Rigoletto habe erzählt, dass überall Blut gewesen sei, es sei sogar aus der Tür rausgelaufen.

Die letzte Station unter dem Naziregime für Rigoletto Weiß war das KZ Mittelbau-Dora im heutigen Bundesland Thüringen. Am 11. April 1945 befreiten die Alliierten das Lager, das war wenige Tage vor Rigolettos 16. Geburtstag. Von hier machte er sich auf nach Norddeutschland und fand in Bremen seine Tante wieder, bei der er aufwuchs. Als junger Mann kehrte er dann zurück nach Hamburg und gründete dort eine Familie.

Der Nachkriegspass von Rigoletto Weiß

Der Nachkriegspass von Rigoletto Weiß

Diskriminierung auch nach Kriegsende

Mit dem Ende des Nationalsozialismus ist das Leid der Sinti und Roma nicht vorbei ."Sie kamen aus den Lagern und wurden weiter von der Kriminalpolizei verfolgt und von der Gesellschaft geächtet", sagt Oliver von Wrochem, Vorstand der Stiftung Hamburger Gedenkstätten. Man habe Sinti und Roma "weiterhin als Verbrecher, als Menschen, die auffällig sind, behandelt".

Auch Rigoletto Weiß erlebte nach Kriegsende weiterhin ständig Polizeikontrollen und musste mehrfach umziehen, weil seine Familie an den zugewiesenen Plätzen oft nicht willkommen war. Im hohen Alter urteilte er: "Allerdings sind wir Sinti nie wirklich befreit worden, sondern wir sind bis heute nur Freigänger in dieser Gesellschaft."

Dort, wo Rigoletto Weiß als Elfjähriger vor über 80 Jahren in einen Viehwaggon gepfercht wurde, befindet sich heute das "Denkmal Hannoverscher Bahnhof". Hier stehen 20 Gedenktafeln, symbolisch für die 20 Deportationszüge, die von hier gestartet sind. Rigolettos Name steht auf der Tafel des ersten Zuges - es ist ein Name unter Tausenden.

Oliver von Wrochem an der Gedenktafel am Hannoverschen Bahnhof in Hamburg.

Ein Name unter Tausenden: Gedenktafeln erinnern heute an die Deportation vor über 80 Jahren am damaligen "Hannoverschen Bahnhof". Das Foto zeigt Oliver von Wrochem, Vorstand der Stiftung Hamburger Gedenkstätten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 02. August 2023 um 12:00 Uhr.