interview

Landtagswahl im Nordosten "Das Problem eines eingebildeten Kranken"

Stand: 05.09.2016 16:15 Uhr

Die Unzufriedenheit mit der Demokratie ist in Mecklenburg-Vorpommern groß. Doch die Gründe dafür liegen nicht im politischen System, erklärt Historiker Paul Nolte. Im Gespräch mit tagesschau.de spricht er über enttäuschte Erwartungen und rät zur Gelassenheit.

tagesschau.de: Laut einer Umfrage ist fast jeder zweite Wähler in Mecklenburg-Vorpommern mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland unzufrieden. Was ist da los?

Paul Nolte: Diese Unzufriedenheit hat in den Realitäten der Demokratie eigentlich kein Fundament. Man kann es fast wie das Problem eines eingebildeten Kranken beschreiben. Die Demokratie ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht schlechter geworden, sondern besser. Die Transparenz hat zugenommen, es gibt mehr Möglichkeiten über direkte Demokratie am Prozess teilzunehmen. Die Gründe für die Unzufriedenheit liegen eher in den Menschen selber als in der Demokratie.  

Paul Nolte
Zur Person

Paul Nolte ist Historiker, Publizist und Professor am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Zu seinen Hauptarbeitsgebieten zählt die jüngere deutsche Geschichte. Er ist außerdem Präsident der Evangelischen Akademie in Berlin.

tagesschau.de: Das müssen Sie erklären. Welche Gründe können eine so hohe Unzufriedenheit erklären?

Nolte: Historisch gesehen liegen die Gründe für die zunehmende Unzufriedenheit mit der Demokratie selten in den bestehenden Institutionen. Das war auch in der Weimarer Republik so. Anders als man lange glaubte war die demokratische Reichsverfassung keine Fehlkonstruktion, aber das Land steckte in einer kulturellen Krise. Das sehen wir heute wieder. Es gibt eine tief sitzende Unzufriedenheit mit der Richtung, in die sich die Gesellschaft bewegt: mit der liberalen Öffnung, sei es für Flüchtlinge oder für die Homo-Ehe, auch mit der Globalisierung. Und diese Unzufriedenheit wird auf das politische System projiziert.

tagesschau.de: Ganz neu ist diese Erkenntnis nicht. In den ostdeutschen Bundesländern fällt die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie traditionell schwächer aus als im Westen. Warum ist es 26 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht gelungen, die Menschen im Osten gleichermaßen für diese Staatsform zu begeistern?

Nolte: So etwas dauert nach großen Umbrüchen immer eine lange Zeit. Wir sollten nicht vergessen, dass auch in Westdeutschland die Gewöhnung an die Demokratie nach 1945 Jahrzehnte in Anspruch genommen hat. Ich erinnere nur an 1968 und den darauf folgenden Versuch, die Demokratie noch einmal neu zu erfinden.

Hinzu kommen die realen Entwicklungen in Ostdeutschland. Zwischen den Erwartungen der Menschen aus der Zeit der friedlichen Revolution und der heutigen Lebensrealität tut sich nach wie vor eine spürbare Kluft auf. Obwohl sich vieles verbessert hat, liegen die neuen Länder, was Wohlstand und Lebensqualität angeht, weiter hinter den westdeutschen Bundesländern.

tagesschau.de: Bundesweit sind mehr als 60 Prozent der Deutschen mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Erwarten Sie, dass es bei einem so hohen Niveau bleibt?

Nolte: Ich bin sicher, dass dieses Niveau erhalten bleiben kann. Gut 60 Prozent ist eigentlich sogar noch ziemlich bescheiden. Es ist ja nicht so, als würden beispielsweise autoritäre Lösungen zu besseren Ergebnissen für die Menschen führen.

Gleichzeitig gibt es berechtigte Forderungen an die Demokratie, sich weiter zu verbessern. Dazu lädt diese Staatsform ja auch ausdrücklich ein. Dieser Wunsch nach Veränderung darf jedoch nicht in eine grundsätzliche Absage an die Demokratie führen. Vielen Menschen fällt es zunehmend schwer, zwischen diesen beiden Ebenen zu unterscheiden – gerade in Ostdeutschland.  

tagesschau.de: 44 Prozent der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern sind unzufrieden mit der Demokratie, 43 Prozent bewerten ihre wirtschaftliche Lage als schlecht. Ist das ein Zufall?

Nolte: Da gibt es einen Zusammenhang, aber die wirtschaftliche Lage ist oft ein sehr subjektives Empfinden. Objektiv hat sich die Situation auch für die Menschen in Ostdeutschland in den vergangenen 25 Jahren deutlich verbessert. Da gibt es eine große Diskrepanz zwischen gefühlter Lage und realer Situation.

Die ökonomische Situation ist ohnehin nicht allein dafür ausschlaggebend, ob man mit der Demokratie zufrieden ist. Schauen Sie sich die AfD an: Die Partei wurde als Protestpartei von Professoren gegründet. Da spielte die subjektive wirtschaftliche Lage eine untergeordnete Rolle. Auch manche Hochgebildete sind in der Demokratie orientierungslos geworden.

tagesschau.de: Neben AfD-Anhängern geben vor allem die Wähler der Linkspartei an, mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden zu sein. Was verbindet diese Gruppen?

Nolte: Sie verbindet eine stark ausgeprägte kritische Grundposition zum politischen System – auch wenn die Kritik aus verschiedenen Richtungen kommt. Auch in der Linkspartei gibt es mit dem Wagenknecht-Flügel ja eine Strömung, die sich eher zerknirscht zur geltenden Gesellschaftsordnung bekennt. Außerdem sprechen beide Parteien Menschen an, die sich als Verlierer der gesellschaftlichen Entwicklung ansehen und für ihr gefühltes Leid das vermeintliche Versagen der Demokratie verantwortlich machen.

tagesschau.de: Der Großteil der Wähler in Mecklenburg-Vorpommern schaut mit Zuversicht auf die Zukunft des Bundeslandes – trotz einer immer noch hohen Arbeitslosigkeit, Bevölkerungsschwund und dem niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen der Republik. Der Blick auf den wirtschaftlich starken Bund fällt jedoch deutlich pessimistischer aus. Wie passt das zusammen?

Nolte: Das bestätigt einen Mechanismus, mit dem Populisten schon seit langem arbeiten, nämlich dass den Menschen das weit Entfernte zunehmend suspekt ist. Es gibt eine Vertrautheit mit den lokalen Verhältnissen. Da kennt man sich aus und empfindet die Entwicklung normalerweise als relativ befriedigend. Was man jedoch nicht kennt und damit auch nicht aus der eigenen Lebenswelt beurteilen kann, wird zunehmend kritisch gesehen. Deshalb ist der Blick nach Berlin in der Regel düsterer als der Blick in den eigenen Vorgarten. Und am schlimmsten wird es dann, wenn man nach Brüssel schaut.

tagesschau.de: Zur Wahrheit gehört auch, dass in Mecklenburg-Vorpommern noch nie so viele Menschen mit der Demokratie zufrieden waren wie heute. Gibt diese Entwicklung Anlass zur Hoffnung?

Nolte: Wir sollten uns zumindest von den 21 Prozent für die AfD nicht verrückt machen lassen. Fast 75 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Mecklenburg-Vorpommern haben etablierte Parteien gewählt, die NPD ist aus dem Landtag geflogen. Das sind doch gute Nachrichten.

Wir müssen noch stärker vermitteln, dass es zum Wesen der Demokratie gehört, sie auch zu kritisieren, ohne dabei die Grundloyalität zum System aufzugeben. Das setzt auch Engagement voraus. Wenn sich die Menschen auch in Mecklenburg-Vorpommern wieder verstärkt für ihr Gemeinwesen einsetzen, dann werden schnell noch mehr von ihnen merken, wie gut die Demokratie funktioniert.

Das Interview führte Julian Heißler, tagesschau.de