Interview

Bundeswehrverband fordert Umdenken "Wir vergessen den Menschen"

Stand: 25.01.2011 12:36 Uhr

Der Bundeswehrverband bemängelt die hohe Einsatzbelastung der Soldaten. Kampftraining habe allgemeine Ausbildung und Erziehung verdrängt, sagte Verbandsvize Wüstner im Interview mit tagesschau.de. Deshalb sei der Wehrbeauftragte heute stärker gefordert als früher.

tagesschau.de: Die jüngsten Erkenntnisse des Wehrbeauftragten Hellmut Königshaus sorgen für reichlich Schlagzeilen. Entsinnen Sie sich an einen weiteren Fall, wo ein Wehrbeauftragter über Tage hinweg eine solche mediale Aufmerksamkeit für seine Arbeit bekam?

Major André Wüstner: Der frühere Wehrbeauftragte Reinhold Robbe hat es immer wieder geschafft, ähnlich mediale Aufmerksamkeit zu erhalten. Ich muss allerdings sagen, dass die derzeitige Häufung von Vorfällen und die dementsprechende Berichterstattung gerade im Vorfeld eines Jahresberichtes für mich schon überraschend sind.

tagesschau.de: Handelt Königshaus im Interesse der Truppe, wenn er eine solche mediale Aufmerksamkeit erzeugt?

Wüstner: Das kann man nicht eindeutig bewerten. Fakt ist: Das Amt des Wehrbeauftragten ist ein gutes Amt. Wir sind froh, auch als Berufsverband, dass es dieses Amt gibt. Wichtig ist, dass Mängel über Hierarchien hinweg dahin transportiert werden, wohin sie gehören, nämlich ins Parlament. Da handelt der Wehrbeauftragte ganz klar im Sinne der Soldatinnen und Soldaten. Was einzelne Bemerkungen betrifft - das wollen wir als Berufsverband nicht diskutieren, ob die Wortwahl geschickt war oder nicht.

Im Interesse der Soldatinnen und Soldaten

1956 gegründet, vertritt der Bundeswehrverband als eingetragener Verein die Interessen von aktiven und ehemaligen Bundeswehrangehörigen. Er wird deshalb auch als "Soldatengewerkschaft" bezeichnet. Der DBwV versucht, die Arbeit von Parlament und Regierung entsprechend zu beeinflussen. So machten seine Vorsitzende auf die Risiken der Wehrpflichtverkürzung, auf die Probleme traumatisierter Soldaten und auf die Mängel bei Ausrüstung und Ausbildung aufmerksam. Heute zählt der Verband rund 200.000 Mitglieder. Major André Wüstner gehört zu den Stellvertretern des Vorsitzenden Oberst Ulrich Kirsch.

tagesschau.de: Königshaus-Vorgänger Robbe sprach in Zusammenhang mit umstrittenen Aufnahmeritualen bei den Gebirgsjägern von "Einzelfällen", während Königshaus selbst jetzt weitere Missstände auf der "Gorch Fock" vermutet. Hat die Bundeswehr also doch ein strukturelles Problem?

Wüstner: Das kann ich mir so nicht vorstellen. In einer derart großen Organisation wird es leider immer auch Mängel und Missstände geben. Wichtig ist aber, dass man nicht nur die Auswüchse bekämpft, sondern deren Wurzeln angeht. Nehmen Sie zum Beispiel die vielen Lehrgänge, die sich mit den Grundlagen der Inneren Führung beschäftigen: Recht, Ordnung, politische Bildung. Die sind eingepflegt in einen Ausbildungsrhythmus von ein oder zwei Jahren. Wenn aber Truppen im März 2010 aus Afghanistan zurückkommen und im Januar 2011 wieder in den Einsatz gehen, dann bleibt kaum Raum für Pause und auch kaum Raum für Ausbildung und Erziehung. Dann fallen Dinge hinten runter. Dann liegt der Schwerpunkt vielleicht nicht mehr auf Ausbildung in Sachen Innere Führung. Dann liegt der Schwerpunkt vielleicht mehr darauf, im Kampf zu bestehen als eine Art Lebensversicherung.

tagesschau.de: Wäre das auch ein Thema für den Wehrbeauftragten?

Wüstner: Grundsätzlich ja. Einsatzbelastung ist ein großes Thema. "Vom Einsatz her denken", das ist der Slogan, der momentan vorherrscht. Das ist unserer Auffassung nach nicht hundertprozentig zielführend. Eigentlich muss es heißen: "Vom Menschen her denken". Der Mensch ist der eigentliche Träger des Systems, positiv wie negativ. Das merkt man jetzt auch bei den diskutierten Verfehlungen. Vor lauter Effizienzsteigerung vergessen wir den Menschen. Früher gab es einen Beauftragten für Erziehung und Ausbildung, und der hat in den Streitkräften auch Missstände aufgegriffen. Diesen Beauftragten gibt es seit letztem Jahr nicht mehr.

tagesschau.de: In der Vergangenheit beschrieben die Wehrbeauftragten in ihren jährlichen Berichten Missstände in der Bundeswehr - veraltete Kasernen im Westen oder fehlende Kinderbetreuung waren einige dieser Kritikpunkte. Was ist daraus geworden? Sind die Missstände behoben? Oder verpuffte die Kritik?

Wüstner: Bestimmte Mängel tauchen immer wieder auf. Das ist schade, und das kritisieren wir als Berufsverband. Das Thema "Familie und Dienst" ist ein Riesenproblem wie auch das Thema "Mängel bei der Ausrüstung". Viele dieser Probleme sind der nicht vorhandenen Verfügbarkeit finanzieller Mittel geschuldet. Aber der Wehrbeauftragte kann das Parlament auffordern, das Motto "Wer bestellt, bezahlt" zu beherzigen.

tagesschau.de: Inwieweit hat sich die Rolle des Wehrbeauftragten im vergangenen Jahrzehnt gewandelt?

Wüstner: Unsere Welt ist schnelllebiger geworden. Meldungen über Missstände werden sehr schnell transportiert. Auch der Wehrbeauftragte muss sehr schnell agieren und reagieren. Das gilt auch für das Ministerium oder den Bundeswehrverband. Dahingehend hat sich die Art und Weise der Kommunikation und der Berichterstattung verändert. Auf der anderen Seite wächst die Belastung aufgrund der Einsätze. Von daher ist der Wehrbeauftragte mehr gefordert als noch vor Jahren.

Die Fragen für tagesschau.de stellte Ute Welty.