Interview

Web-Expertin Kathrin Passig im Interview "Es gibt kein Zurück in die Zeit vor Facebook"

Stand: 14.01.2010 16:55 Uhr

Soziale Netzwerke im Internet sind ins Gerede gekommen. Zu viel Zeit gehe für sie drauf, ihre User verkümmerten sozial und Datenhaie seien in den Networks unterwegs. Eine Folge: Ausstieg bei Facebook und Co. tagesschau.de befragte dazu die Schriftstellerin und Web-Journalistin Kathrin Passig.

tagesschau.de: Frau Passig, die Tagespresse berichtet, soziale Netzwerke im Web machten einsam und sozial beschränkt. Wie nutzen Sie persönlich Facebook und Co.?

Kathrin Passig: Ich bin bei Facebook nur mit Menschen befreundet, die ich persönlich kenne, es bildet also mehr oder weniger 1:1 meinen Offline-Bekanntenkreis ab. Andere soziale Netzwerke (im weiteren Sinne), die ich in den letzten 15 Jahren intensiv genutzt habe, waren verschiedene Chats, das Internetforum "Wir höflichen Paparazzi" und Twitter.

Dazu kommen Experimente mit Netzwerken, die sich für mich nicht bewährt haben (Friendster, Orkut, Hunch, Lovelybooks, quillp), und andere, in die ich nur alle paar Tage mal reinsehe (Fetlife, OKcupid) und auf ein bestimmtes Einsatzgebiet spezialisierte Angebote wie last.fm.

Zur Person

Die Journalistin Kathrin Passig schreibt seit Jahren über das Internet. Sie veröffentlicht in Zeitungen, Büchern und im Web, etwa im Blog "Riesenmaschine". Als Schriftstellerin wurde Passig bekannt, nachdem sie 2006 den Ingeborg- Bachmann-Preis gewann.

tagesschau.de: Und - wie "gefährdet" sind Sie, dadurch einsam und sozial beschränkt zu werden?

Passig: Die bescheidenen sozialen Fähigkeiten, die ich heute habe, habe ich im und durch das Internet erworben. Dem Internet verdanke ich 95 Prozent meiner Freunde. Die einzige Art, wie ich mir vorstellen könnte, internetbedingt einsam und sozial beschränkt zu werden, wäre durch Abschaffung des Internets. Es sieht zum Glück nicht so aus, als stünde das unmittelbar bevor.

tagesschau.de: Nun zum Minitrend von "Austritten" bei Facebook und anderen sozialen Netzwerken: Ist da was dran?

Passig: Warum nicht, schließlich gibt es online wie offline in allen Netzwerken ein Kommen und Gehen. Sozialleben ist eine dynamische Angelegenheit. Bemerkenswert wäre eher, wenn es - nach der Anfangsphase, in der das jeweilige Ding für alle Nutzer neu, interessant und funkelnd ist -, keine Austritte zu vermelden gäbe.

Noch keine Austrittswelle in Deutschland

tagesschau.de: Warum sollte es plötzlich zeitgemäß sein, aus Facebook auszutreten?

Passig: Es ist das Gesetz des Hype-Zyklus. Alles beginnt mit großer Begeisterung über das Neue und kulminiert im "Gipfel der überzogenen Erwartungen". Dann lässt der anfängliche Enthusiasmus nach, die Nutzungsintensität sinkt und erreicht schließlich das "Tal der Enttäuschungen". Von diesem Tiefpunkt aus pendelt sich die Nutzung dann auf einem mittleren Niveau ein, dem "Plateau der Produktivität". Für Facebook bedeutet das: Viele haben sich mal angemeldet, ein bisschen damit herumgespielt und dann die Lust verloren.

Vielleicht gibt es für manche Altersgruppen in Deutschland immer noch keine kritische Masse bei der Facebook-Nutzung. Man kennt dann einfach zu wenige Leute, die Facebook aktiv verwenden. Das macht das Ganze natürlich uninteressant. Ich vermute das, weil ich - ich werde dieses Jahr 40 - einige Zeit zwar bei Facebook angemeldet war, dort bis etwa 2008 aber kaum jemanden kannte.

Die Daten über neuerdings brachliegende Facebook-Accounts beziehen sich meines Wissens aber sowieso auf US-Nutzer. In Deutschland wird man dasselbe Phänomen also wahrscheinlich erst in ein paar Jahren beobachten.

"Haha, neues Ding gar nicht so toll"

tagesschau.de: Dinge anfangen und wieder sein lassen ist an sich nichts ungewöhnliches. Warum ist es ein Thema, wenn das bei sozialen Netzwerken geschieht?

Passig: Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das ein größeres Thema ist als beispielsweise "Nordic Walking verliert an Beliebtheit". Dem Medienthema "Hurra, neues Ding, wir berichten" folgt eben normalerweise das Thema "Haha, neues Ding gar nicht so toll, wir haben's gleich gewusst".

Falls soziale Netzwerke davon tatsächlich stärker betroffen sind, würde ich vermuten, dass da viel Wunschdenken im Spiel ist. Soziale Netzwerke haben für die, die sie wenig oder gar nicht nutzen, etwas Bedrohliches. Veränderungen sieht der Mensch ja generell nicht so gern, noch viel weniger, wenn sie ein so zentrales Gebiet des Zusammenlebens betreffen. Da ist es natürlich schön, sich vorzustellen, dass das alles nur so eine Phase war, nach der das Leben weitergehen wird wie vorher.

"Nur für Terroristen und pickelige junge Männer"

tagesschau.de: Sie haben sich eingehend mit der Technologieskepsis gegen das Internet beschäftigt, und Sie haben verschiedene Phasen dabei gefunden. Was sind das für Phasen?

Passig: Diese Phasen finden sich nicht nur beim Internet als Ganzem oder seinen einzelnen Erscheinungen, sondern in der Berichterstattung über alle technische Neuerungen, auch das Telefon, das Flugzeug oder die Schreibmaschine. Zuerst heißt es "Wozu soll das denn gut sein?", dann folgt "Das braucht doch nun wirklich kein Mensch" und "Ich brauche das jedenfalls nicht. Das ist nur was für Terroristen und picklige junge Männer."

tagesschau.de: Und dann?

Passig: Als Nächstes behauptet man "Das ist doch nur wieder so eine Phase", dann "Na gut, es geht also nicht mehr weg, aber ändern wird sich dadurch nichts!" Schließlich sieht man ein, dass das neue Ding manche Vorteile hat und klagt jetzt, es sei ja aber noch gar nicht perfekt, und außerdem viel zu teuer. Wird das Neue dann preiswerter und attraktiver, muss man sich wiederum Sorgen machen, was passiert, wenn Frauen, Kinder und andere leicht beeindruckbare Gemüter damit konfrontiert werden.

Am Ende stehen Etikettefragen (Handytelefonate in der Öffentlichkeit pro und contra) und im Falle von Techniken, die mit Denken, Lesen oder Schreiben zu tun haben, die Sorge, sie könnten unser Denken, Lesen oder Schreiben verändern - natürlich zum Schlechteren. Dann wird etwas Neues erfunden, und alles geht wieder von vorne los. Ein solcher Zyklus scheint im Moment etwa zehn bis fünfzehn Jahre zu dauern.

tagesschau.de: In welcher Phase befindet sich die Debatte über Facebook?

Passig: "Das ist doch nur so eine Phase." Facebook soll bitte wieder bedeutungslos werden. Und weil Facebook das größte soziale Netzwerk ist, verschwinden logischerweise alle kleineren gleich mit. Danach sieht das Leben wieder genau wie früher aus, und niemand muss sich mehr Sorgen machen, weil er keinen rechten Anschluss an die neuen sozialen Sitten findet. Dass Facebook in ein paar Jahren wieder an Bedeutung verliert, ist dabei sogar ziemlich wahrscheinlich; von AOL, dem Platzriesen der 90er, hat man schließlich in letzter Zeit auch nicht mehr so viel Aufregendes gehört.

Screenshot der tagesschau-Facebook-Seite

Auch bei Facebook: die Tagesschau

Die schlechte Nachricht für Anhänger des "Nur-eine-Phase"-Glaubens: An die Stelle von Facebook wird nicht der Prä-Facebook-Zustand treten, sondern Angebote, die noch viel stärkere Verwerfungen in unseren sozialen Gepflogenheiten mit sich bringen.

Das Gespräch führte Christian Radler (tagesschau.de) per E-Mail