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Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster AfD zu Recht Verdachtsfall: Was das bedeutet

Stand: 13.05.2024 09:45 Uhr

Der Verfassungsschutz hat die AfD laut Oberverwaltungsgericht Münster zu Recht als rechtsextremistischen Verdachtsfall eingestuft. Was aus so einer Einstufung folgt.

Von Frank Bräutigam und Christoph Kehlbach, ARD-Rechtsredaktion

Was ist die Aufgabe des Verfassungsschutzes?

Der Verfassungsschutz ist der deutsche Inlandsgeheimdienst. Man nennt ihn auch das "Frühwarnsystem der Demokratie". Es gibt in Deutschland das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sowie 16 Landesbehörden für Verfassungsschutz. Laut Gesetz sind Bund und Länder verpflichtet, in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zusammenzuarbeiten.

Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden ist "die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen". Und zwar unter anderem über "Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind" - also zum Beispiel gegen Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte. Es geht in der Praxis vor allem um die Beobachtung von Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamistischem Extremismus.

Welche Kategorien zur Einstufung gibt es?

Der Verfassungsschutz ordnet mögliche Fälle verfassungsfeindlicher Bestrebungen in drei Kategorien ein: Das Anlegen eines Prüffalls ist der erste Schritt im Verfahren beim Verfassungsschutz. Hierbei wird - vereinfacht gesagt - vorgeprüft, ob genügend Anhaltspunkte für eine Beobachtung vorliegen.

Der Verfassungsschutz kann in diesem Stadium lediglich Informationen aus offen zugänglichen Quellen sammeln: Zeitungsartikel, Fernsehbeiträge oder Internetauftritte etwa, aber auch öffentliche Äußerungen der beteiligten Personen, Vereinssatzungen oder Parteiprogramme. Über die Einstufung einer Person oder Gruppierung als Prüffall darf der Verfassungsschutz die Öffentlichkeit nicht informieren.

Wenn der erste Schritt aus Sicht der Behörde ergeben hat, dass es bei einem Prüffall tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung gibt, dann stuft der Verfassungsschutz diesen Fall hoch. Die nächste Stufe ist der Verdachtsfall. Ab dieser zweiten Stufe darf der Verfassungsschutz die betreffende Gruppierung beobachten, sie gilt nun als "Beobachtungsobjekt".

Die dritte Stufe ist das Vorliegen einer gesichert extremistischen Bestrebung. Hier hat sich der Verdacht schon so weit verfestigt, dass aus Sicht der Behörde keine Zweifel mehr am Vorliegen extremistischer Bestrebungen bestehen. Wie schon bei den Verdachtsfällen beobachtet der Verfassungsschutz auch hier die jeweilige Gruppierung oder Einzelperson.

Das BfV kann einen Prüffall auch direkt zur gesicherten Bestrebung hochstufen, ohne den "Umweg" Verdachtsfall zu nehmen. Soweit bei den Kategorien "Verdachtsfall" und "gesichert extremistisch" hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, informiert der Verfassungsschutz auch die Öffentlichkeit.

Was bedeutet "beobachten" genau?

Der Verfassungsschutz darf bei den Beobachtungsobjekten der zweiten und dritten Stufe nachrichtendienstliche Mittel einsetzen. So kann die Behörde etwa V-Leute anwerben, also Informanten aus dem Umfeld der Partei. Außerdem kann sie Personen observieren oder auch - sofern noch weitere Voraussetzungen erfüllt sind - die Telekommunikation überwachen.

Allerdings greift eine Beobachtung in die Grundrechte der Beobachteten ein. Darum muss das BfV immer das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beachten: Jede Maßnahme muss also erforderlich und angemessen sein. Es darf also kein milderes Mittel geben, das genauso effektiv wäre. Bei einer gesichert extremistischen Bestrebung sind dabei tendenziell mehr Maßnahmen zulässig als bei einem Verdachtsfall. In beiden Fällen stehen also die gleichen "Werkzeuge" zur Verfügung, aber die Einzelfallentscheidung, wie genau beobachtet wird, fällt mitunter unterschiedlich aus. Gerade die Telekommunikationsüberwachung ist daher nur in Ausnahmefällen zulässig.

Wichtig für Organisationen, die Parteien nahestehen: Wenn sich die Beobachtung auch auf gewählte Parlamentarier erstrecken soll, gelten besonders hohe Hürden. Das Bundesverfassungsgericht hat 2013 entschieden, dass die Beobachtung eines Abgeordneten durch Behörden einen besonders schweren Eingriff in das freie Mandat darstellt. Das sei nur in Ausnahmefällen zulässig.

Was prüfen die Gerichte?

Staatliche Behörden wie der Bundesverfassungsschutz können in Deutschland nicht tun, was sie wollen - sie sind immer an Recht und Gesetz gebunden. So gilt beispielsweise für das BfV das Bundesverfassungsschutzgesetz. Ob die jeweiligen Behörden sich an die jeweiligen gesetzlichen Vorgaben halten oder möglicherweise diesen Rahmen überschreiten, prüfen die Gerichte.

Die Betroffenen können Maßnahmen, die sie betreffen, unabhängig von der Justiz überprüfen lassen. So klagte auch die AfD gegen die Einstufung als Verdachtsfall. Der Bundesverfassungsschutz musste dann zunächst vor dem Verwaltungsgericht Köln und dann in zweiter Instanz vor dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen die "tatsächlichen Anhaltspunkte" darlegen, die ja Voraussetzung für eine Einstufung als Verdachtsfall sind.

Sind solche Einstufungen gleichbedeutend mit einem Verbot einer Gruppierung?

Nein. Bei der Einstufung als Verdachtsfall oder als gesichert extremistisch handelt es sich um eine Maßnahme des Verfassungsschutzes. Es ist aber nicht Sache des Verfassungsschutzes Parteien oder Vereine zu verbieten. Bezogen auf Parteien kann das nur das Bundesverfassungsgericht. Für Vereinsverbote ist das Bundesinnenministerium zuständig.

Selbst wenn ein Gericht also eine Einstufung, beispielsweise als Verdachtsfall, bestätigt hat, bedeutet das nur: Das BfV hat sich rechtmäßig verhalten und keine Fehler gemacht. Sollte es zu einem späteren Zeitpunkt aber zu einem Verbotsverfahren kommen, könnten die Ergebnisse einer Beobachtung durch den Bundesverfassungsschutz allerdings wieder relevant werden.

Denn es geht inhaltlich in einem solchen Verfahren teilweise um die gleichen Fragen - beispielsweise: Welchen Volksbegriff vertritt eine Gruppierung? Oder: Will eine Gruppierung die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen? Auch eine Partei die als Verdachtsfall geführt wird, ist also nicht verboten. Sie darf daher weiter an Wahlen teilnehmen und in Parlamenten vertreten sein.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 13. Mai 2024 um 09:30 Uhr.