Einer Person wird in einem Impfzentrum in Moskau eine Spritze mit dem Impfstoff Sputnik-V injiziert.
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Russland und das Impfen Widersprüchliche Propaganda

Stand: 26.08.2021 11:46 Uhr

Die russische Propaganda steckt in einer strategischen Zwickmühle: Während der Staatssender RT in Deutschland Angst vor Corona-Impfungen schürt, wird die Impfkampagne in Russland beworben.

Von Patrick Gensing, Redaktion ARD-faktenfinder

Was der russische Staatssender RT DE vermeldet, klingt alarmierend. Bei Covid-19-Impfungen seien mehr als doppelt so viele Nebenwirkungen gemeldet worden "wie in den letzten 20 Jahren". Gemeint sind sämtliche gemeldete Nebenwirkungen bei anderen Impfstoffen. Die neuartigen Impfstoffe gegen Covid-19 würden "in Dauerschleife" als sicher dargestellt, schreibt eine RT-Autorin - doch mit der Realität habe das nichts zu tun. "Die Datenbank des für Impfstoffe zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) offenbart das Gegenteil." Angeblich.

Im Folgenden werden verschiedene Zahlen zitiert, die sich tatsächlich in Berichten des PEI finden. So verzeichne das PEI in seinem jüngsten Sicherheitsbericht insgesamt 131.671 Meldungen mutmaßlicher Nebenwirkungen zwischen dem 27. Dezember 2020 und dem 31. Juli 2021. Zwischen dem 1. Januar 2000 bis zum 31. Dezember 2020 hingegen seien "für alle verwendeten Impfstoffe zusammen 54.488 gemeldete Nebenwirkungen - also weniger als halb so viele wie bei den COVID-19-Impfungen" gemeldet worden.

Zahlen ohne Kontext

Das PEI verweist allerdings ausdrücklich darauf, dass es sich bei diesen Zahlen um Verdachtsfälle handele; ein ursächlicher Zusammenhang sei damit nicht erwiesen. Weiterhin seien Rückschlüsse auf die Menge oder Schwere der tatsächlich eingetretenen Ereignisse nicht möglich. Die aufgeführten Daten bedürften vielmehr einer medizinischen Interpretation und dürften "keinesfalls als Ersatz für eine ärztliche Aufklärung über mögliche Nebenwirkungen" betrachtet werden.

Weiterhin würden "schwerwiegende Nebenwirkungen nach Gabe eines neuen oder im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Impfstoffs erfahrungsgemäß häufiger gemeldet" als nach Gabe bereits länger im Markt befindlicher Impfstoffe. Man könne also annehmen, dass "die allgemeine Aufmerksamkeit bei neuen Arzneimitteln insgesamt höher ist als bei etablierten Arzneimitteln" - eine Annahme, die insbesondere bei Covid-19 zutreffen dürfte. Denn eine vergleichbare Situation wie die derzeitige Pandemie und die vielfältigen Debatten über die Impfkampagnen lässt sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht finden.

Nebenwirkungen per App melden

Dazu kommt noch die Tatsache, dass es nie einfacher war, mutmaßliche Nebenwirkungen zu melden. In Deutschland können Geimpfte mögliche Nebenwirkungen per App, auf verschiedenen Webseiten oder in Apotheken melden. So wurde die SafeVac-App des PEI allein bei Google Play mehr als 100.000 mal heruntergeladen. Schwere Verdachtsfälle sind ohnehin meldepflichtig. Außerdem wird auf Blogs, in Facebook-Gruppen und Telegram-Kanälen von Impfgegnern dazu aufgerufen, mögliche Nebenwirkungen zu melden, dazu werden Linklisten mit entsprechenden Möglichkeiten für Meldungen verbreitet.

Über das tatsächliche Risiko eines Impfstoffs sagt die Zahl der Meldungen somit erst einmal nichts konkretes aus, noch viel weniger über die Schwere. Vielmehr soll mit diesem System erreicht werden, dass auch sehr seltene Nebenwirkungen erkannt werden können. Daher sind die gemeldeten Verdachtsfälle lediglich die Basis für weitere Analysen und Risikoabschätzungen.

Sterberisiko hochgerechnet

Mit solchen Details hält sich RT DE allerdings nicht auf, sondern stellt in einer Zwischenüberschrift die Frage, ob es ein "45-mal höheres Sterberisiko als nach bisherigen Impfungen" gebe? Die Autorin des russischen Staatssenders führt aus: "Während das PEI zwischen 2000 und 2020 insgesamt 456 Verstorbene nach Verabreichung eines Vakzins registriert hatte, meldete es im Zuge der Covid-19-Impfungen bereits 1254 Tote."

Allerdings heißt es in dem Bericht des Instituts, es handele sich bei den angeführten "1254 Toten" um Verdachtsfallmeldungen "über einen tödlichen Ausgang in unterschiedlichem zeitlichem Abstand zur Impfung. In 48 Fällen halte das Paul-Ehrlich-Institut einen ursächlichen Zusammenhang mit der jeweiligen Covid-19-Impfung "für möglich oder wahrscheinlich". Hierbei handelte es sich überwiegend um Thrombose-Fälle. RT DE erwähnt diese Einschränkung zwar, erklärt aber, die Aussagekraft sei "relativ gering".

"Kein Signal für erhöhte Sterblichkeit"

Da mittlerweile eine sehr große Zahl von Menschen geimpft worden ist, können auch statistische Schätzungen helfen, das Risiko zu analysieren. Basierend auf Daten des Statistischen Bundesamts mit 982.453 Sterbefällen im Jahr 2020 bei Personen im Alter von 12 und älter, bezogen auf 73.918.151 Einwohner in dieser Altersgruppe, ergebe sich in der sogenannten Observed-versus-Expected-Analyse "kein Signal für eine insgesamt erhöhte Sterblichkeit nach Covid-19-Impfstoff-Gabe", teilte das PEI auf Anfrage mit. Weiterhin seien diese Verdachtsfälle auf mehr als 90 Millionen Impfgaben bezogen.

Schon zu Beginn der Impfkampagne hatte RT über ein angebliches "Impfmassaker" in Norwegen berichtet, über die Aktivitäten des sogenannten "Corona-Ausschusses" wird immer wieder ausführlich berichtet. Der Bericht über die Zahl der Nebenwirkungen bei Impfungen wird derzeit tausendfach geteilt, unter anderem von AfD-Verbänden und Coronaleugnern, wie eine Auswertung mit "CrowdTangle" zeigt. Analysen zeigen zudem, dass der russische Staatssender im Milieu von "Querdenkern" zu den am meisten geteilten Quellen gehört.

Zweifel säen im Ausland, bewerben im Inland

Auch die aus dem Kontext gerissenen Zahlen über Verdachtsmeldungen von Nebenwirkungen werden massenhaft verbreitet. Während RT die Impfungen der deutschen Öffentlichkeit aber als riskant darstellt und offenkundig Ängste schüren will, sieht die Berichterstattung über die Impfkampagne in Bezug auf Russland oft anders aus. So wird beispielsweise in einem Beitrag auf der englischsprachigen Seite von RT für mehr Impfungen in Russland geworben, da dies ein sicherer Weg sei, um sich gegen Covid-19 zu schützen. Es gebe mehr als genug Impfstoff, die Menschen müssten die Angebote nur annehmen.

In einer anderen Meldung aus dem Juni hieß es zu der Impfbereitschaft, lediglich zehn Prozent der Menschen in Moskau hätten sich bislang impfen lassen. Ursachen seien wohl Misstrauen und Skepsis gegenüber dem Impfstoff. Russland kämpft in der Pandemie also genau gegen die Zweifel, die vom eigenen Staatssender im Ausland offenkundig gesät werden sollen - und steckt somit in einer strategischen Zwickmühle.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 am 29. Januar 2021 um 10:10 Uhr.