Dorf Schuld am Tag nach dem Unwetter und Hochwasser im Sommer 2021.
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Desinformation Irreführende Grafik verharmlost Klimawandel

Stand: 20.01.2023 11:51 Uhr

Im Netz kursiert eine Grafik, die einen Rückgang der klimabedingten Todesfälle in den vergangenen Hundert Jahren zeigt, um die Folgen des Klimawandels zu verharmlosen. Dabei ist die Grafik aus vielerlei Hinsicht irreführend.

Von Carla Reveland und Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Immer wieder kursieren vermeintlich wissenschaftliche Belege, welche Zweifel an der globalen Erderwärmung erwecken. So verbreitet sich derzeit eine Grafik auf Telegram, die eindrücklich zeigen soll, wie massiv weltweit die Todesfälle in den letzten hundert Jahren zurückgegangen sind, die auf Klimakatastrophen zurückzuführen seien.

Auf Telegram heißt es dazu: "1920 waren es noch fast 500.000 Tote jährlich, im vergangenen Jahr 2022 nur noch knapp 10.000. Ein Rückgang um 98%! Diese Grafik wird die klima-hysterische Presse wohl nie drucken." Die Grafik bezieht sich dabei auf eine Studie des umstrittenen Politikwissenschaftlers Bjørn Lomborg und suggeriert implizit, dass die Auswirkungen des Klimawandels gar nicht so verheerend sein könnten.

Datengrundlage vermutlich nicht vollständig

Datengrundlage ist die Emergency Events Database (EM-DAT) des Centre for Research on the Epidemiology of Disasters (CRED) der Katholischen Universität Löwen in Belgien. Eigenen Angaben zufolge beinhaltet die Datenbank die "weltweit umfassendsten Daten über das Auftreten und die Auswirkungen von mehr als 24.000 technischen und naturbedingten Katastrophen von 1900 bis heute". Berücksichtigt für die Darstellung der Grafik wurden alle klimabedingten Ereignisse wie Fluten, Dürren, oder Extremtemperaturen. Geologische Katastrophen wie Erdbeben, Tsunamis oder Vulkanausbrüche zählen hingegen nicht dazu.

Die Daten von EM-DAT gelten unter Experten insgesamt als vertrauenswürdig, auch andere große Untersuchungen wie etwa der World Disaster Report beziehen sich darauf. Dennoch sei zumindest fraglich, wie vollständig und genau die Daten vor allem mit Blick auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts seien, sagt Katja Frieler, Leiterin der Forschungsabteilung Transformationspfade beim Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Knapp 90 Prozent aller in der Datenbank angeführten klimabedingten Katastrophen seien nach 1980 aufgenommen worden.

Zudem fehlen nach Ansicht von Felix Creutzig, Leiter der Arbeitsgruppe Landnutzung, Infrastruktur und Transport am Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC), viele klimabedingte Todesfälle aufgrund der Kriterien von EM-DAT. "Viele Hitzewellen sind nicht berücksichtigt, dabei ist deren Sterblichkeit nachweislich sehr hoch." Denn anders als beispielsweise bei einer Flutkatastrophe würden bei Hitzewellen die Menschen eher schleichend über mehrere Tage sterben. Die meisten davon tauchen nicht in der Datenbank auf. Einer Studie zufolge sind etwa 37 Prozent der hitzebedingten Todesfälle auf den menschengemachten Klimawandel zurückzuführen.

Grafik "ziemlich irreführend"

Die gewählte Darstellungsform der Grafik von Lomborg ist zudem aus Sicht von Frieler "ziemlich irreführend". Denn die Grafik zeigt nicht die Anzahl der Todesfälle der einzelnen Jahre, sondern Mittelwerte über zehn Jahre. "Die Darstellung erzeugt den Eindruck eines stetigen Verlaufs von konstant hohen Werten auf verhältnismäßig niedrige Werte. Sie verbirgt, dass die hohen Werte am Anfang auf ganz wenige Ereignisse mit extrem hohen Todeszahlen zurückgehen", sagt Frieler.

Scrennshot einer Studie, die bei Telegram geteilt wurde.

Die Grafik der Studie wurde unter anderem bei Telegram verbreitet

So gibt es zum Beispiel 1931 ein einziges Überflutungsereignis in China, das mit 3,7 Millionen Todesfällen in der Datenbank steht. Insgesamt gibt es in der Zeit von 1900 bis 1970 acht Ereignisse, die mit mehr als eine Million Todesopfern in der Datenbank stehen. Diese Angaben übersteigen die Opferzahlen anderer Ereignisse aus der Zeit bei weitem, sie bestimmen aber im Wesentlichen den Verlauf der gezeigten Kurve.

"Die Kurve suggeriert einen weltweiten Trend, der in dieser Ausprägung aber darauf zurückzuführen ist, dass in den letzten Jahren keine dieser sehr katastrophalen Ereignisse mehr erfasst wurden", sagt Frieler. Ein Diagramm, das die Todesfälle der einzelnen Ereignisse abbilde, mache das deutlicher.   

Bessere Vorbereitung auf Klimakatastrophen

Fachjournalist Toralf Staud des Wissensportals klimafakten.de erläutert, warum es generell richtig sei, dass die Todesfälle durch Klimakatastrophen in den letzten hundert Jahren zurückgegangen sind. Man habe dazugelernt, verfüge mittlerweile über ganz andere Technik als noch vor hundert Jahren und sei dementsprechend deutlich besser auf Unwetter und andere Naturkatastrophen vorbereitet - sowohl was Prävention wie auch Rettungseinsätze im Ernstfall angehe.

"Natürlich wurden beispielsweise bei Frühwarnsystemen gegen Sturmfluten oder der Bekämpfung von Buschbränden große Fortschritte gemacht, und zusammengenommen ist durch diese bessere Vorbereitung auf Naturkatastrophen die Zahl der Menschenleben zum Glück zurückgegangen", sagt Staud.

Das hieße jedoch bei weitem nicht, dass die Warnungen vor einer künftigen Zunahme von Wetterkatastrophen mit Todesopfern übertrieben seien. "Das ist ein logischer Fehlschluss, weil das Thema Anpassung und Vorsorge gegen Naturkatastrophen mit dem Thema Einfluss von Klimawandel auf Naturkatastrophen vermischt wird."

Extremste Auswirkungen erst in Zukunft sichtbar

"Man kann schon rein logisch aus Entwicklungen der Vergangenheit nicht linear fortschreiben, dass es in der Zukunft genauso sein wird. Wenn es in der Vergangenheit kein Problem gab, kann man daraus nicht verlässlich ableiten, dass es in der Zukunft keines gibt." Wetterextreme würden im Zuge der Erderhitzung nachweislich zunehmen und heftiger werden, was sehr sicher auch mit steigenden Opferzahlen einhergehen werde, so Staud. Das sei in der Forschung praktisch unumstritten.

Der Klimawandel habe zwar schon begonnen, doch die massivsten Auswirkungen des Klimawandels kämen erst in der Zukunft auf uns zu. Einer Studie zufolge werden bei einem globalen Temperaturanstieg um zwei Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit doppelt so viele Menschen von Flutkatastrophen betroffen sein wie bisher. Auch unter Dürren, Wirbelstürmen und Hitzewellen würden dann deutlich mehr Menschen auf der Welt leiden. Dem neuesten IPCC-Bericht zufolge könnten trotz Anpassung Ende des Jahrhunderts etwa neun Million Menschen an den Folgen des Klimawandels sterben - pro Jahr.

"Wir müssen unbedingt die Treibhausgasemissionen reduzieren, um uns überhaupt noch an die gravierenden Schäden anpassen zu können", sagt Klimaforscher Niklas Höhne, Mitbegründer des New Climate Institutes. Wenn weiterhin so viel emittiert werde wie bisher, würden die Auswirkungen noch sehr viel schlimmer werden. "Dann werden wir uns gar nicht mehr anpassen können."

Rosinenpickerei als Strategie

Die verbreitete Grafik sei daher ein typisches Beispiel für Rosinenpickerei, sagt Höhne. Rosinenpickerei (oder auf englisch cherry picking) sei eine sehr gängige Desinformationsstrategie der Wissenschaftsleugnung, ergänzt Staud. Es werden nur die Datenpunkte herausgepickt, die die eigene Meinung stützen und dann hervorgehoben. "So wird ein falsches Bild in die Welt gesetzt, was auf isolierten, aber für sich genommen durchaus korrekten Informationen basiert."

"Ein Trick ist immer das Weglassen von Daten. In der Grafik wurden nur die direkten Todesfälle von Klimaeinflüssen genommen, zum Beispiel durch Stürme. Aber die ganzen indirekten Todesfälle, wie durch den Klimawandel ausgelöste Hungersnöte, fehlen komplett", erläutert Höhne.

Hinzu kämen weitere indirekte Folgen des Klimawandels: "Wenn wir so weiter machen wie bisher, dann sind irgendwann ganze Landstriche nicht mehr bewohnbar. Der Meeresspiegel steigt an, es gibt Dürren und damit in Verbindung stehende Brände, die irgendwann nicht mehr zu löschen sind." Das führe nicht unbedingt dazu, dass Menschen sterben, aber sie müssten umgesiedelt werden. Und das sei ein riesiger Aufwand. "Wenn man an Küstenstädte wie Amsterdam oder auch New York denkt, dann merkt man schnell, dass es fast nicht zu stemmen ist. Das kann man eben nicht alles in der Anzahl der Toten messen."

Aus der Datenbank EM-DAT, auf die sich Lomborg mit seiner Grafik bezieht, lassen sich auch ganz andere Schlussfolgerungen ziehen, wenn nicht nur die reinen Todeszahlen herangezogen werden. So ist die Zahl der klimabedingten Katastrophen in den letzten Hundert Jahren beispielsweise deutlich gestiegen, ebenso die Zahl der betroffenen Menschen solcher Ereignisse. Und auch der finanzielle Schaden durch solche Ereignisse ist insgesamt deutlich angestiegen- das alles mit der Einschränkung, dass die Daten für die Jahre 1900 bis 1980 mutmaßlich nicht vollständig sind.

Unzulässige Suggestionen

In diesem Fall werde nicht nur die Strategie der Rosinenpickerei angewandt, sondern auch Logikfehler begangen. So werden aus korrekten Informationen falsche Schlüsse gezogen. "Die Grafik suggeriert, dass wir uns in Zukunft keine Sorgen machen müssen über Todesopfer durch Klimawandel und durch Wetterkatastrophen, das ist aber absolut unzulässig und steht im krassen Widerspruch zum Stand der Forschung", so Staud.

Während die Grafik im Netz und in diversen Telegram-Kanälen genutzt wird, um den Klimawandel oder zumindest die Folgen zu verharmlosen, geht es Lomborg in seiner Studie vor allem darum, die finanziellen Ausmaße des Klimawandels zu relativieren. So stünden die Ausgaben für die CO2-Reduzierung seiner Meinung nach nicht im Verhältnis zu den Schäden, die durch den Klimawandel verursacht würden.

Allerdings sind die Zahlen, die er dafür verwendet, vom IPCC-Bericht aus dem Jahr 2014. In der neuesten Version werden die Schäden deutlich höher eingeschätzt, sodass auch hier aus Sicht von Klimaforschern eine Verringerung der CO2-Emissionen auf Dauer die einzige Lösung ist. Allein durch feuchte Hitze gehen einer Studie zufolge weltweit mehr als 650 Milliarden Arbeitsstunden verloren - in einigen Ländern betrage der wirtschaftliche Schaden dadurch mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Zudem würden beispielsweise die erneuerbaren Energien es ermöglichen, dass Klimaschutz auch finanziell rentabel zu machen, sagt Creutzig vom MCC. "Mittlerweile sind wir ja in dem Stadium, dass die erneuerbaren Energien günstiger sind als die fossilen Treibstoffe. Und daher ist die Forschungslage mittlerweile so, dass der Klimaschutz sich auf jeden Fall rechnet - auch finanziell."

"Wenn Lomborg suggerieren will, wir brauchen keine Emissionen zu senken, dann ist das völlig falsch", sagt auch Staud. "Denn es ist ganz klar: Je schlimmer oder je stärker der Klimawandel wird, also je weniger Klimaschutz wir machen, desto höher muss in Zukunft mit materiellen Schäden und mit Todesopfern gerechnet werden."