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Handel und Investitionen Kann Europa im Standort-Wettbewerb mithalten?

Stand: 27.05.2024 17:03 Uhr

Die Europäische Union konkurriert als Wirtschaftsraum mit den USA und China. Experten warnen, dass Europa in diesem Wettbewerb zurückfalle. Wie steht die EU kurz vor den Wahlen wirklich da?

Von Melanie Böff, ARD-Finanzredaktion

Europa steht unter Druck. Wachstumsdellen, Haushaltskrisen, hohe Energiekosten und Bürokratie - die Probleme für den Wirtschaftsstandort Europa drängen. Lösungen könnte es nach der Europawahl geben. Doch wie weitreichend werden die sein, um im Wettbewerb mit großen Volkswirtschaft wie den USA und China weiterhin mithalten zu können?

Denn die Wirtschaft in Europa wächst schwächer als erwartet. Die Europäische Kommission hat ihre Prognosen bereits nach unten korrigiert. Das Wirtschaftswachstum in der EU und im Euroraum lag im vergangenen Jahr bei 0,5 Prozent. Für das Jahr 2024 rechnet die EU mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 0,8 Prozent in der Eurozone und 1,0 Prozent in der EU. Auch die Konjunkturprognose für das kommende Jahr senkte die Kommission ab.

Belastet durch Energiepreise

Die EU habe im Vergleich zu den USA und China in den vergangenen beiden Jahren deutlich an Dynamik verloren, sagt Thomas Obst, Ökonom beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, gegenüber tagesschau.de.

Belastet worden sind die Unternehmen vor allem durch die hohen Energiepreise infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Das trieb die Preise generell nach oben, wobei sich die Lage inzwischen entspannt hat.

Die Euro-Inflation blieb im April auf dem Niveau des Vormonats, bei 2,4 Prozent. Die Teuerung ist damit zum ersten Mal seit Dezember nicht weiter gesunken. Ökonomen erwarten weiterhin eine erste Zinssenkung der Zentralbank im Juni.

Zu wenig Investitionen in Forschung?

Europa falle derzeit wirtschaftlich und technologisch zurück, sagt ifo-Präsident Clemens Fuest gegenüber tagesschau.de. "Das Wirtschaftswachstum ist schwach, aber auch technologisch droht Europa den Anschluss zu verlieren." In Europa werde etwa deutlich weniger in Forschung und Entwicklung investiert als in den USA. "Außerdem fließt nur ein kleiner Anteil der europäischen Forschungsmittel in schnell wachsende Hochtechnologie-Bereiche, wie Hardware und Software der Informationstechnologie", so Fuest.

Im Gegensatz zur EU sei die Volkswirtschaft der Vereinigten Staaten mit 2,5 Prozent Wachstum im vergangenen Jahr deutlich dynamischer, sagt IW-Ökonom Obst.

EU-Programm für den Aufschwung

Das gesamte Bruttoinlandsprodukt der 27 EU-Staaten, also der Wert aller dort hergestellten Waren und Dienstleistungen, lag im vergangenen Jahr bei rund 17 Billionen Euro. Deutschland ist dabei weiterhin die größte Volkswirtschaft, Malta die kleinste.

Laut Thomas Obst sind die ökonomischen Zugpferde in der EU zuletzt vor allem Spanien, Portugal, Italien oder Polen gewesen. Das liegt auch am Aufbauprogramm "Next Generation EU", das den EU-Staaten zu wirtschaftlichen Aufschwung verhelfen soll.

In Italien zum Beispiel wurde das Förderprogramm "Superbonus 110" aufgelegt, was private Investitionen in der Bauwirtschaft ankurbelte. Damit werden Bürgern klimafreundliche Investitionen erstattet, etwa in klimafreundliche Heizungen.

Italien hat höchstes Defizit

Dieses Programm ist allerdings umstritten, denn es führte auch dazu, dass die Staatsausgaben die Einnahmen deutlich übertrafen. Italiens Defizit ist im vergangenen Jahr noch größer ausgefallen als erwartet: es lag bei 7,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also deutlich über der in den europäischen Verträgen festgelegten Obergrenze von drei Prozent. Italien hatte damit das größte Haushaltsloch gemessen an der Wirtschaftsleistung, gefolgt von Ungarn und Rumänien.

Insgesamt hatten elf Länder ein Defizit von mehr als drei Prozent. Das geht aus Daten des EU-Statistikamtes Eurostat hervor. In Frankreich sind es 5,5 Prozent. Deutschland bleibt unter dem Grenzwert. "Wir beobachten das Thema mit zunehmender Sorge", sagt Ökonom Obst. Eigentlich vorgesehene Strafen waren zuletzt wegen der Corona-Krise sowie der Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine ausgesetzt.

Zersplitterter Kapitalmarkt

Mit Blick auf die Zukunft der EU als Wirtschaftsstandort bleiben die Aussichten eher trübe. Der Binnenmarkt ist mit etwa 450 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern einer der größten gemeinsamen Wirtschaftsräume der Welt. Allerdings ist der europäische Kapitalmarkt zersplittert. Unterschiedliche Regeln in der EU gelten als großer Wettbewerbsnachteil gegenüber Standorten in den USA oder Asien.

Um Wachstum zu fördern und Europa wettbewerbsfähiger zu machen, wird schon länger über eine Kapitalmarktunion diskutiert. Die soll die Finanzmärkte offener und integrierter machen. Investitionen in Europa sollen attraktiver werden, denn noch immer fließen viele Kapitalgewinne oft ins Ausland.

Sorgen in der Industrie

Für deutsche Unternehmen sind die EU-Staaten als Absatzmarkt unverzichtbar. Doch laut einer Befragung der Industrie- und Handelskammern unter rund 3.000 Firmen sind zwei Drittel der deutschen Industriebetriebe der Meinung, dass die Attraktivität der EU als Unternehmensstandort in den vergangenen fünf Jahren gesunken ist.

"Die Ursache liegt in schlechten Rahmenbedingungen, also etwa hohen Steuern, ausufernder Bürokratie, Dirigismus und mangelnder Bereitschaft, Investitionen und Leistungen gegenüber aktuellem Konsum zu priorisieren", so Wirtschaftsforscher und ifo-Chef Fuest gegenüber tagesschau.de.

Hoffnung auf Abkommen mit Mercosur-Staaten

Kritik gibt es aber auch mit Blick auf den sogenannten "Green Deal" - eines der zentralen Projekte der EU-Kommission. Bis 2050 sollen die Unternehmen in Europa einerseits klimaneutral wirtschaften und andererseits wettbewerbsfähig sein. Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), fordert einen "Kassensturz": "Bürokratie muss ab- und nicht aufgebaut werden, damit die Betriebe mehr Ressourcen für eine klimagerechte Umgestaltung ihrer Geschäftsaktivitäten haben. Nur so kann Europa wieder ein attraktiver Standort für Unternehmen werden."

Seitens der DIHK hofft man nun auf die nächste Legislaturperiode, auf Entlastungen für die Unternehmen und weitere Freihandelsverträge wie das geplante Mercosur-Abkommen. Damit würden die EU und Südamerika eine der weltweit größten Freihandelszonen der Welt schaffen, die mehr als 30 Prozent der globalen Warenexporte abdecken könnte. Denn in beiden Regionen leben mehr als 720 Millionen Menschen.

Zu Mercosur, gegründet nach dem Vorbild der EU, haben sich die südamerikanischen Länder Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay zusammengeschlossen - als eine Wirtschaftsgemeinschaft.

Mehr Investitionen in den USA

Ob dieses neue Handelsabkommen mit Südamerika aber Wirklichkeit wird, ist noch immer ungewiss. Es gibt zum Teil erheblichen Widerstand aus der EU, etwa aus Frankreich. Unter anderem befürchten Landwirte die Konkurrenz durch billige Agrarimporte.

Indes hat der "Inflation Reduction Act" - das milliardenschwere Investitionsprogramm der US-Regierung - viele ausländische Direktinvestitionen in die Vereinigten Staaten gelenkt, oft aus Deutschland. Das seien "Investitionen, die in Europa aufgrund schlechterer Wettbewerbsbedingungen dann nicht mehr getätigt werden", sagt der IW-Experte Obst.

Wenn Europa wirtschaftlich besser mithalten wolle, müsse die Politik den Themen Wachstum und Effizienz mehr Aufmerksamkeit widmen, urteilt auch der Ökonom Clemens Fuest. "Es ist durchaus möglich, eine politische Agenda zu entwickeln, die bessere Bedingungen für Innovationen, Arbeitsangebot und private wie öffentliche Investitionen sowie Forschung und Bildung schafft."

In einer ersten Version dieses Artikels hieß es, Italien habe im vergangenen Jahr in der EU die höchste Staatsverschuldung gehabt. Tatsächlich hatte das Land das höchste Haushaltsdefizit - gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Diesen Fehler haben wir korrigiert.

Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 am 23. April 2024 um 11:38 Uhr.