Eine Frau wartet in der ukrainischen Region Sumy auf den Bus zur Weiterreise in die Kernukraine
reportage

Grenzübergang zwischen Russland und Ukraine Mit nichts als einer Tasche

Stand: 15.01.2024 05:39 Uhr

In Krasnopilija, rund 20 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt, kommen diejenigen an, die aus dem russisch besetzten Teil der Ukraine geflüchtet sind - oft mit nicht viel mehr, als sie am Leib tragen.

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Es ist spät am Abend als die Menschen in der großen Küche in dem alten Haus in Krasnopilija endlich etwas Warmes bekommen. Der Ort liegt rund 20 Kilometer von der Grenze mit Russland entfernt in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine. Diese hat eine rund 400 Kilometer lange Grenze mit Russland und bis zur Vollinvasion am 24. Februar 2022 fuhren hier viele Züge und Lastwagen Richtung Moskau durch.

Entlang diesem Grenzabschnitt verläuft keine Front, doch die Region Sumy steht unter Dauerbeschuss der russischen Armee und im Januar wurde auch Krasnopilija beschossen. Für die Menschen an dem langen Holztisch ist der Ort dennoch die erste ruhige Anlaufstelle nach der Flucht aus ihrem russisch besetzten Zuhause, das viele hundert Kilometer entfernt liegt. 

Ein Spielzimmer in der ersten Anlaufstelle in Krasnopilija.

Ein Spielzimmer in der ersten Anlaufstelle in Krasnopilija. Nebenan schlafen völlig erschöpft Kinder.

"Wir haben lange nachgedacht, ob wir weg sollen, und hatten Zweifel. Aber wir mussten gehen, denn niemand hat dort Rechte", sagt die 68-jährige Rentnerin Valentina. "Es gibt dort nichts Gutes", ergänzt ihr Sohn Wolodymyr. Seine Mutter machte sich grundsätzlich viele Sorgen, doch die Angst, dass ihr 40-jähriger Sohn von den russischen Besatzern eingezogen werden könnte, gab den letzten Ausschlag zum Gehen. Sie stammen aus Kachowka im russisch besetzten Teil der Region Cherson im Süden des Landes.  

Humanitärer Übergang nur für ukrainische Bürger

Alle, die in der Küche sitzen, haben tagelang nicht geschlafen und tiefe Ringe unter den Augen. Denn sie sind gerade aus Russland zurück in die Ukraine gekommen. Da sie nicht durch Frontlinien können, mussten sie erst nach Russland und von dort aus wieder in die Ukraine zurück. Grenzübergänge sind seit der Invasion geschlossen - auch der ukrainisch-russische Grenzübergang bei Pokrowka in der Region Sumy. Allerdings dürfen ukrainische Staatsbürger ihn als sogenannte humanitären Übergang benutzen.  

Druck und Willkür an russischen Checkpoints

Auch zwei ältere Frauen aus Kachowka haben diesen Übergang gerade überquert und erzählen während sie zu Abend essen von ihrer Odyssee. Tagelang waren sie in einem Minibus unterwegs - über die besetzte Hafenstadt Mariupol in Richtung Russland und durch die Gegend Belgorod an die Grenze mit der Ukraine. Begleitet von der ständigen Angst vor den von Willkür und Gewalt geprägten zahlreichen russischen Checkpoints auf dem Weg. Und voller Sorge, was sie antworten sollen, wenn sie gefragt würden, wohin sie wollen. "Das war das Schlimmste", sagt eine der beiden. "Warum unterstützt ihr Russland nicht?", hätten die Russen gefragt.  

Keine Arbeit, keine Sicherheit, russische Propagandaschulen

Am Übergang von den russisch besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland in Nowoassowsk hätten die russischen Soldaten den meisten Druck gemacht, erzählen die Frauen. Auch ein junges Ehepaar aus Nowa Kachowka hat diese Erfahrung gemacht. Alle möchten ihre Namen nicht öffentlich nennen. Die Russen hätten sehr oft gefragt, warum sie weggehen würden und sie dazu bewegen wollen zu bleiben, sagt die junge Ehefrau und streicht dem Sohn über die braunen Haare.  

"Wir haben keine Arbeit und es ist nicht sicher für unser Kind" Es gebe nur die russische Schule und keine gute Medizin. "Die Russen fragen, warum wir wegwollen? Das ist eine seltsame Frage, da dort keine normalen Bedingungen herrschen. Unser Kind kann nicht einmal draußen spielen. Es ist es gefährlich, weil überall Menschen mit Maschinengewehren sind." 

Zudem seien die Menschen in den besetzten Gebieten ständigem Druck ausgesetzt, russische Pässe anzunehmen, sagt die junge Frau aus Nowa Kachowka.   

Kateryna Stratilo

Kateryna Stratilo betreut Menschen direkt nach der Ankunft.

Kontrollen und Verhöre auf russischer Seite

Das Essen in der großen Küche in Krasnopilija haben Freiwillige von der regierungsunabhängigen Organisation Pluriton zubereitet. Diese hilft den Menschen nach ihrer Ankunft mit Übernachtungen, beim Registrieren und Weiterfahren. Viele haben Verwandte im ukrainisch kontrollierten Gebiet des Landes, doch es gibt auch Menschen die nicht wissen, wie es weiter geht, sagt Pluriton-Chefin Kateryna Stratilo.

Viele seien mehrere Tagen ohne Schlaf unterwegs und der Übergang sei schwierig. Auf der russischen Seite gebe es eine langwierige Kontrolle, die sogenannte Filtration. Diese dauere oft mehrere Stunden, in denen die persönlichen Dinge der Menschen kontrolliert und sie selbst verhört würden, sagt Stratilo: "Das ist eine ziemlich strenge Prozedur, die Stress und Angst verursacht. Und es werden auch nicht alle aus Russland rausgelassen. Wer durchkommt, muss dann vom russischen zum ukrainischen Kontrollpunkt zwei Kilometer zu Fuß gehen." Dieser Übergang sei für ältere und kranke Menschen oder kleine Kinder extrem schwierig.

Eine alte Dame sitzt neben einem Tisch.

Diese alte Dame kam mit dem Rollstuhl über die Grenze. Sie will zu ihrer Tochter nach Kiew.

Mehr als 20.000 Ukrainer kamen bisher über Übergang

In der Ukraine werden die Ankömmlinge aus den russisch besetzten ukrainischen Gebieten ebenfalls befragt, unter anderem vom ukrainischen Geheimdienst. An diesem Abend ist sogar eine alte Dame im Rollstuhl angekommen, Mitflüchtende haben sie abwechselnd geschoben. Sie will nun weiter zu ihrer Tochter nach Kiew.   

Nach Angaben der regionalen Militärverwaltung von Sumy kamen zwischen April 2022 und Oktober 2023 mehr als 20.000 Menschen über den humanitären Grenzübergang aus Russland in die Ukraine.  

Emotionale Krisen und fehlende seelische Gesundheit

Nach dem Essen am großen Küchentisch steigen alle in einen gelben Bus, der sie zum Übernachten in die Gebietshauptstadt Sumy bringt. In einem Flüchtlingszentrum werden sie unter anderem über ihre Rechte und Ansprüche auf Unterstützung als Binnenflüchtlinge informiert, so die erfahrene Sozialarbeiterin Olha Kovalenko. Sie arbeitet für die regierungsunabhängige Organisation "SOS Wostok" und wartet auf die Ankommenden.

Viele hätten nur eine Tasche dabei, so Kovalenko. "Die seelische Gesundheit von vielen hat sehr gelitten. Deshalb sind hier auch Psychologen und Therapeuten. Man muss mit diesen Menschen lange arbeiten. Oft sind sie depressiv und stecken in emotionalen Krisen."

Auch in dem Zentrum in Sumy können die Menschen etwas essen, duschen und sich ausruhen. Wer möchte kann auch die russischen Rubel loswerden, die die russischen Besatzer als Zwangswährung in den besetzten ukrainischen Gebieten eingeführt haben. "Nur für Rubel", steht auf einem kleinen Pappkarton.  

Kein Geld für die Flucht aus russischer Besatzung

Hinzu kommt bei vielen die Angst um Angehörige, die nicht mitgekommen, sondern unter russischer Besatzung geblieben sind. Manche wollen auf das Haus oder die Wohnung aufpassen, andere die alten Eltern nicht alleine lassen. Es bleiben aber auch Menschen zurück, weil das Fluchtgeld nicht für alle reicht, erzählen Binnenflüchtlinge immer wieder. Denn pro Person müsste man umgerechnet mit etwa 250 Euro rechnen. Rentnerin Valentinas Ehemann kam wegen der zu versorgenden Tiere und der Hunde nicht mit. "Das ist sehr schwer für mich. Wir wollen wieder nach Hause und sind ganz sicher, dass wir zurückkehren werden", sagt sie. 

Andrea Beer, ARD Kiew, tagesschau, 14.01.2024 23:43 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 15. Januar 2024 um 07:44 Uhr.