Flüchtlingspolitik Wer will was in der EU?
"Der 7. März ist der Tag, an dem sich alles entscheiden wird" - klare Worte von EU-Migrationskommissar Avramopoulos. Gebe es keine Einigung, werde die EU auf ein "Desaster" zusteuern. tagesschau.de mit einem Überblick zu den Themen des EU-Gipfels.
Der Andrang Hunderttausender Flüchtlinge setzt die Europäische Union unter Druck, die europäische Solidarität stößt an ihre Grenzen. Ein Gipfel jagt den nächsten und doch finden die 28 Staaten keine gemeinsame Linie. Die Erwartungen an den erneuten Gipfel sind hoch. Kanzlerin Angela Merkel und die verbliebenen Willigen, die ebenfalls eine europäische Lösung anstreben, brauchen eine Erfolgsmeldung. Kommt es nicht zu Lösungen, werde es zu einem "Desaster" kommen, prophezeite etwa EU-Migrationskommissar Dimitrs Avramopoulos.
Im Ringen um die Begrenzung der Flüchtlingszahl setzt vor allem Merkel (und die EU-Kommission) ihre Hoffnungen auf die Türkei. Doch nicht alle Staats- und Regierungschefs stimmen der Kanzlerin in dieser Frage zu.
Aktionsplan mit der Türkei
Aufgrund ihrer geografischen Lage ist die Türkei ein wichtiges Erstaufnahme- und Transitland für Flüchtlinge, vor allem aus dem Nachbarland Syrien. Die EU und die Türkei einigten sich Ende November auf einen gemeinsamen Aktionsplan samt finanzieller Hilfen. Die Türkei ist für Merkel der Schlüssel in der Flüchtlingskrise. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker pflichtete ihr dazu beim Gipfel im Februar bei. Dort zeigte sich Merkel zufrieden: Alle 28 Mitgliedsstaaten hätten den EU-Türkei-Aktionsplan für prioritär erklärt.
Das Land soll drei Milliarden Euro Unterstützung bekommen, um Flüchtlinge aus Syrien selbst besser zu versorgen. Dafür soll Ankara helfen, die illegale Ausreise über den Seeweg auf die griechischen Inseln weitgehend zu unterbinden. Im Gegenzug wollen einige EU-Staaten der Türkei freiwillig sogenannte syrische Kontingent-Flüchtlinge abnehmen.
Doch auch bei dem Aktionsplan läuft nicht alles rund: Das Geld war wochenlang durch EU-Querelen blockiert. Laut EU-Kommission sollen die vereinbarten Milliarden nun in den kommenden zwei Jahren verfügbar sein. Doch auch mit der Türkei ist man nicht richtig zufrieden. Drei Monate nach der Vereinbarung des Aktionsplans, in dem sich Ankara zur besseren Grenzkontrolle und einem entschlossenen Vorgehen gegen Schlepper verpflichtet hat, heißt es von der EU: "Der Zustrom von Migranten, die in Griechenland aus der Türkei ankommen, bleibt viel zu hoch."
Politiker wie Ungarns Premierminister Viktor Orban stemmen sich gegen eine Lösung mit der Türkei. Europas Zukunft und Sicherheit dürfe nicht vom Wohlwollen der Türkei abhängig sein, das sei keine gute Politik. Ungarn baute als erstes Land in der EU Zäune zu den Nachbarstaaten, setzt damit auf eine nationale Lösung.
Nationale oder europäische Lösung?
Zu Beginn der Flüchtlingskrise wäre die Antwort eindeutig gewesen: Auf der einen Seite die "Koalition der Willigen", auf der anderen Seite die "Koalition der Unwilligen". Bei den Willigen ist Deutschland treibende Kraft, setzt auf Solidarität und eine Lösung mit der Türkei. Außerdem Außerdem zählten Österreich, Belgien, die Niederlande und Luxemburg, Schweden, Finnland, Slowenien, Portugal, Frankreich und Griechenland dazu.
Doch auch der Wille der "Willigen" bröckelt, Merkel gehen die Verbündeten aus. Während Länder wie Luxemburg nach wie vor auf eine europäische Lösung pochen, machen andere einen Rückzieher. Damit wird eine gemeinsame Linie schwieriger. Drei Beispiele:
- Schweden, lange Europas Vorreiter in Sachen Flüchtlingsaufnahme, sagt mittlerweile, es könne und wolle keine Flüchtlinge in so hoher Zahl mehr aufnehmen.
- In Frankreich war die Kanzlerin zunächst für ihre Haltung in der Flüchtlingskrise bewundert worden, dann kippte mit der Zeit die Stimmung. Präsident François Hollande akzeptierte eine begrenzte Anzahl von 30.000 Flüchtlingen, die Aufnahme weiterer Flüchtlinge schloss Premierminister Manuel Valls aber aus.
- Österreich wiederum hatte Griechenland und Deutschland im Februar nicht zu einer Flüchtlingskonferenz mit den Westbalkanstaaten eingeladen, obwohl die beiden Länder am stärksten von der Krise betroffen sind. Zudem setzt es mit Obergrenzen auf eine nationale Lösung und erklärte die "Koalition der Willigen" für tot.
Zu den Verfechtern einer Abschottungspolitik, also der "Koalition der Unwilligen", gehören die Visegrad-Gruppe (Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei), aber auch Großbritannien, das nie Teil der Schengen-Zone und der europäischen Asylpolitik war. Ihnen gemeinsam ist: Sie haben bisher nur sehr wenige Flüchtlinge aufgenommen.
Das Nicht-EU-Land Mazedonien lässt an seiner Grenze zu Griechenland nur noch wenige Syrer und Iraker passieren. Mazedonien und Bulgarien erklärten sich zudem bereit, Zäune an den Grenzen zu Griechenland hochzuziehen, sollte Athen die Flüchtlingskrise nicht in den Griff bekommen. Maßnahmen mit Folgen: Griechenland würde praktisch aus dem Schengen-Raum ausgesperrt.
Wie mit Griechenland umgehen?
Griechenland hat derzeit besonders mit hohen Flüchtlingszahlen zu kämpfen. Und Griechenland leidet unter den nationalen Lösungen der anderen Staaten: Auf die teilweise Schließung der Balkanroute durch Mazedonien hat die Regierung in Athen zunächst wütend und drohend reagiert. Hinzu kommt, dass die Touristenzahlen einbrechen. Das ist eine schwierige Situation für das wirtschaftlich gebeutelte Land.
Hilfe kam vergangene Woche von der EU-Kommission: Staaten wie Griechenland sollen in den nächsten drei Jahren bis zu 700 Millionen Euro für die Bewältigung der Flüchtlingskrise bekommen. Die ersten 300 Millionen sollen so schnell wie möglich schon im laufenden Jahr fließen. Ein griechischer Plan sieht vor, dass etwa 50.000 Flüchtlinge in Aufnahmelagern und weitere 50.000 in einfachen Hotels untergebracht werden sollen. Sollte der Zaun an der mazedonischen Grenze geschlossen bleiben, sind Ausweichrouten wie über Albanien oder den Seeweg von Griechenland nach Italien schon absehbar.
Zuvor hatte Griechenland mit einem Boykott der EU gedroht: Griechenlands Regierungschef Alexis Tsipras hatte erklärt, sein Land werde (EU-)Beschlüssen nicht zustimmen, wenn die verbindliche gleichmäßige Verteilung von Lasten und Verantwortung nicht umgesetzt werde. Athen fühlt sich alleingelassen. Auch wegen der Umverteilung, die nicht voran kommt.
Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen
Im September beschlossen die EU-Staaten mehrheitlich (und gegen den ausdrücklichen Willen mehrerer Mitgliedsländer) die Umverteilung von 160.000 Menschen vor allem aus Griechenland und Italien. Beide Länder tragen seit Jahren die Hauptlast der Flüchtlingskrise und sollen nun zumindest ein wenig entlastet werden. Doch die anderen Staaten ziehen nicht mit. Bislang wurden 598 (Stand 24. Februar) Flüchtlinge aus Griechenland und Italien umverteilt. EU-Vertretern zufolge gibt es mehrere Gründe, warum die Umverteilung nicht funktioniert. Dazu gehören lange Prüfungen, weil Regierungen Terroristen unter den Flüchtlingen fürchten, fehlende Unterbringungskapazitäten und Logistikprobleme bei Charterflügen.
Einige Staaten aus Osteuropa weigern sich zudem generell, Flüchtlinge aufzunehmen. Ungarn und die Slowakei klagten gegen den EU-Umverteilungsbeschluss vor dem Europäischen Gerichtshof. Ungarns Regierungschef Viktor Orban will das Volk sogar in einem Referendum darüber abstimmen lassen, ob sich Ungarn dem EU-Beschluss beugen soll und die auf das Land entfallenen 1294 Flüchtlinge aufnehmen soll.
Ursprünglich wollte die EU-Kommission (und auch Deutschland) viel mehr als nur die Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen. Ziel war ein fester Verteilschlüssel, eine Quote, die festlegt, welches EU-Land wie viele Menschen jährlich aufnimmt. Doch das ist nicht mehrheitsfähig. Inzwischen spricht EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker nur noch von einem "freiwilligen humanitären Aufnahmeprogramm", doch selbst das erscheint fern der Realität.
Obergrenzen
Während Kanzlerin Merkel eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnt, führte die österreichische Regierung im Februar eine Obergrenze ein. Insgesamt dürfen 37.500 Asylbewerber pro Jahr nach Österreich kommen. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr kamen 90.000. Zudem akzeptiert das Land nur noch die Einreise von 80 Asylbewerbern pro Tag sowie die Durchreise vor allem nach Deutschland von täglich 3200 Flüchtlingen.
Die EU-Kommission erklärte diese Deckelung für rechtswidrig. In einem Brief an die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner bezeichnete EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos diese Politik als "klar unvereinbar" mit europäischem und internationalem Recht.
Das Verhalten Österreichs löste weitere Maßnahmen von Staaten an der Balkanroute aus. So lässt Mazedonien nur noch Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak ins Land, Afghanen werden an der Grenze zu Griechenland zurückgewiesen. Sie werfen Athen vor, die EU-Außengrenze nicht effektiv zu schützen. Auch Slowenien, Kroatien und Serbien verkündeten inzwischen eine Obergrenze von 580 Flüchtlingen, denen täglich die Einreise gestattet wird. Dies hat zur Folge, dass mittlerweile Tausende Flüchtlinge in Griechenland festsitzen und dort auf die Möglichkeit zur Weiterreise Richtung Mitteleuropa warten.
Hotspots
Die EU konzipierte sogenannte Hotspots, um Neuankömmlinge in Italien und Griechenland zu registrieren. Dort sollen Wirtschaftsmigranten von Flüchtlingen getrennt, aber beispielsweise auch Terroristen, herausgefiltert werden. Von hier aus sollen auch nicht schutzberechtigte Menschen zurück in ihre Heimatländer gebracht werden.
Die Zentren sollten eigentlich schon 2015 eröffnet werden, das wurde aber mehrmals verschoben. Die EU-Kommission begründet dies mit Mängeln bei Infrastruktur, Personal und Koordinierung. Nun sind die sogenannten Hotspots seit wenigen Wochen einsatzbereit - und Medienberichten zufolge bereits überfüllt. Der Anteil an Migranten, von denen Fingerabdrücke genommen wurden, ist von acht Prozent im September 2015 auf 78 Prozent im Januar 2016 gestiegen. Ziel ist es, so die EU-Kommission, täglich insgesamt 11.000 Fingerabdrücke nehmen zu können.
Ein Registrierzentrum auf der Insel Lesbos bei Moria.
Zudem stellt die EU 12,7 Millionen Euro für den Bau von Aufnahmezentren für 8000 Menschen zur Verfügung. Diese werden zurzeit in Athen und Thessaloniki errichtet. Insgesamt sollen dort in den kommenden Monaten Plätze für rund 50.000 Menschen auf dem Festland gebaut werden, wo die Menschen längerfristig als in den Hotspots untergebracht werden können.
Auch in Italien sollen Hotspots gebaut werden, sechs insgesamt. Doch auch hier gehe es nur langsam voran, teilte die EU-Kommission mit. Erst drei Hotspots seien vollständig betriebsbereit. Dort sei der Anteil der Migranten, denen Fingerabdrücke abgenommen wurden, von 36 Prozent im September 2015 auf 87 Prozent im Januar 2016 gestiegen.
Grenzschutz und Zäune
Mehr Schutz der EU-Außengrenzen - das wollen alle EU-Mitgliedsländer. Besonders im Blick: Griechenland. Aus Sicht der Abschottungsverfechter tut die Regierung in Athen hier zu wenig, Flüchtlinge würden einfach durchgewunken. Mit dem Rauswurf aus dem Club der Schengen-Staaten wird Athen inzwischen gedroht. Griechenland beklagt dagegen immer wieder, dass versprochene Grenzschützer und Material aus den anderen EU-Staaten ausblieben.
Fakt ist: Die Zahl der ankommenden Flüchtlinge in Europa ist weiterhin hoch. Zu hoch, wie die Verfechter einer restriktiven Flüchtlingspolitik meinen. Die Visegrad-Staaten plädieren daher dafür, die Balkanroute abzuriegeln, indem die griechische Grenze zu Mazedonien und Bulgarien mit einem Zaun geschlossen wird. Ungarns Regierungschef Viktor Orban spricht von einer "zweiten Verteidigungslinie" südlich seines Landes. Merkel lehnt das strikt ab: "Einfach in Mazedonien, das gar kein EU-Mitglied ist, einen Schutzzaun zu bauen, ohne uns darum zu kümmern, in welche Notlage das Griechenland brächte, das wäre nicht nur kein europäisches Verhalten, sondern löste auch unsere Probleme nicht", sagte sie.
Auch Juncker hält die Abriegelung rechtlich nicht für zulässig. Die Vergangenheit hat auch gezeigt, dass Flüchtlinge schnell auf andere Routen ausweichen, wenn ein Weg versperrt wird.
Da die EU-Außengrenze aus Sicht vieler Mitgliedsländer aber derzeit nur unzureichend geschützt ist, begannen eine Reihe von EU-Staaten wieder mit eigenen Grenzkontrollen. Das Schengen-Abkommen ist quasi außer Kraft. In den 26 Ländern des Schengenraums ist normalerweise Reisen ohne Kontrollen möglich. Wegen der hohen Flüchtlingszahlen haben fünf Länder diese wieder eingerichtet: Deutschland, Dänemark, Österreich, Schweden sowie das Nicht-EU-Land Norwegen. Hinzu kommt Frankreich, das dies aber mit der Terrorgefahr begründet.
Frontex und NATO
Im Dezember hatte die EU-Kommission einen Gesetzentwurf für einen besseren europäischen Grenz- und Küstenschutz vorgelegt. Das Neue daran: Dieser Grenzschutz soll in Krisensituationen auch gegen den Willen von Mitgliedstaaten eingreifen. Im Normalfall fordert ein Mitgliedsland den Einsatz des Grenzschutzes an. Den Plänen zufolge überwacht die neue Behörde selbst die Lage und bewertet die Risiken. Zeichnet sich ein Problem ab, werden Verbindungsoffiziere entsandt.
Nach den Kommissionsvorstellungen baut der europäische Grenz- und Küstenschutz auf der existierenden EU-Behörde Frontex auf und bekommt 1000 Mitarbeiter - doppelt so viele wie Frontex. Zudem soll es eine Reserve von mindestens 1500 Grenzschutzbeamten geben, die innerhalb kürzester Zeit in Mitgliedsländer entsandt werden können. Das veranschlagte Budget für die neue Behörde liegt bei 238 Millionen Euro und soll 2017 auf 322 Millionen Euro ansteigen. Die EU-Staaten müssen den Plänen noch zustimmen.
Zudem beschloss die NATO einen Marine-Einsatz in der Ägäis. Dabei soll der Kampf gegen etablierte kriminelle Netzwerke von Schleusern unterstützt werden. Die NATO-Schiffe sollen Muster im Vorgehen der Schlepper offenlegen und das Lagebild an die türkische und griechische Küstenwache sowie an die EU-Grenzschutzorganisation Frontex weitergeben. Ende Februar begann dieser Einsatz, die ersten Schiffe sind im Einsatz. Wenn der Einsatz glücke, könne das den Zustrom der Flüchtlinge um bis zu 70 Prozent senken, hofft der griechische Vizeminister für Migration, Ioannis Mouzalas.