Rauch steigt nach einer Explosion über dem belagerten Asow-Stahlwerk in Mariupol (Ukraine) auf

Hilferuf aus Mariupol "Macht etwas, damit diese Hölle aufhört"

Stand: 10.05.2022 11:19 Uhr

Seit Wochen verteidigen Kämpfer des Asow-Regiments das Stahlwerk von Mariupol. Viele Zivilisten konnten inzwischen evakuiert werden, doch für die Kämpfer gibt es wenig Hoffnung. Ihre Angehörigen berichten von großer Verzweiflung.

Von Rebecca Barth, ARD-Studio Warschau

Eine kurze Nachricht täglich - das ist alles, was Kateryna Prokopenko in diesen Wochen von ihrem Mann erhält. Meistens mit gleichem Inhalt: "Wir halten durch." Katerynas Mann ist Denis Prokopenko, Kommandeur des Asow-Regiments. Seit Wochen ist seine Truppe zusammen mit Kameraden der Nationalgarde, der Marine und einigen Polizisten im Asow-Stahlwerk in Mariupol eingekesselt.

Jetzt übernehmen Kateryna Prokopenko und andere Ehefrauen den Kampf um das Leben ihrer Männer. In einer Petition, die innerhalb weniger Tage über 900.000 Menschen unterschrieben haben, fordern sie die Vereinten Nationen auf, eine Resolution zur Evakuierung der Männer zu beschließen. "Es braucht eine gemeinsame Anstrengung unserer Behörden und der gesamten Welt, um Druck auf Putin auszuüben, damit die Soldaten und Verletzten evakuiert werden", sagt die 27-Jährige.

Die Petition ist ihre letzte Hoffnung. "Wenn es zu keiner Evakuierung kommt, wie können wir dann noch von demokratischen Werten, vom Wert des Lebens sprechen? Das hat dann alles keine Bedeutung mehr."

Unbeugsamer Widerstands-Wille der ukrainischen Kämpfer im Asow-Stahlwerk

Birgit Virnich, ARD Warschau, tagesthemen, tagesthemen, 12.05.2022 22:15 Uhr

Alle privaten Pläne sind zunichte

Wenn der russische Präsident Wladimir Putin die Ukraine nicht überfallen hätte, dann hätten die Prokopenkos ihren Sommer in den ukrainischen Karpaten verbracht. Sie wären Kajak gefahren und hätten eine kleine Farm aufgebaut. "Nicht um Tiere zu töten, sondern um sie großzuziehen", sagt Prokopenko. Im Sommer hätten sie den 31. Geburtstag ihres Mannes gefeiert.

Doch jetzt sieht die Welt zu, wie die schätzungsweise 2500 ukrainischen Soldaten in den Bunkern des Asow-Stahlwerks langsam sterben. Wie sie immer dünner werden und ihre Haut immer gelber. Weil sie kaum mehr Nahrung haben, kein Trinkwasser, keine Medikamente. "Es gibt Pilzbefall in den Kellern. Sie haben seit zwei Monaten nicht geduscht", sagt Prokopenko.

Verletzte sterben an Wundbrand. Auch ihre Körper liegen in den Kellern, manche schon seit zwei Monaten. Die Kühlschränke würden nicht mehr funktionieren, sagt Prokopenko.

Denis und Kateryna Propenko

Ein Bild aus einer anderen Zeit. Denis und Kateryna Propenko hatten Pläne für den Sommer - dann brach der Krieg aus.

Ausmaß der Zustände kaum vorstellbar

Wie viele Soldaten tot oder verletzt sind, wollten die Asow-Vertreter bei einer Online-Pressekonferenz am Sonntag nicht sagen. Aber wie schlimm die Zustände in den Bunkern tatsächlich sind, können Angehörige wie Olga erahnen.

Ihr Mann habe sich verändert, sagt sie. Vor wenigen Wochen klang er noch positiv. "Er schrieb, ich solle mir keine Sorgen machen, alles werde gut." Aber seit ein paar Tagen schickt er ihr andere Nachrichten. "Die einzige Hoffnung, die wir haben, seid ihr. Bitte macht etwas, damit diese Hölle aufhört."

Wurden alle Zivilisten gerettet?

Bisher aber konnten nur Zivilisten aus dieser Hölle gerettet werden. "Der Befehl des Präsidenten ist erfüllt", gab die stellvertretende Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk nach der letzten Rettungsaktion von Zivilisten aus dem umkämpften Stahlwerk an.

Doch ob tatsächlich alle Menschen gerettet werden konnten, wollen die Soldaten nicht bestätigen. Dafür ist das Gelände zu groß. Auch sie haben keine Möglichkeit, jeden einzelnen Keller zu durchsuchen.

Der Beschuss hört nicht auf

Gleichzeitig scheint der Dauerbeschuss nicht aufzuhören. Das schreibt auch Marynas Mann. "Wir sind unter Artilleriebeschuss. Überall Einschläge. Viele Tote und Verletzte."

"Mein Gott, was tun?", schreibt sie zurück. Keine Antwort. "Mein Schatz." Keine Antwort. Alle drei Stunden schickt sie eine kurze Nachricht. Bis in die späten Abendstunden. Keine Antwort.

Erst viel später gibt es wieder Netz. Dann schickt er manchmal Fotos. Sie zeigen Hunde und Katzen zwischen den Lagern der Soldaten. Manchmal zeigen sie Verletzungen von Kameraden.

Irgendwann schreibt er: "Die Hunde fressen die Toten. Die Jungs liegen beim Eingang. Die anderen überall verstreut. Wir haben Mykola gefunden, können ihn gerade nicht holen." "Lebt er?" "Nein." 

Konfliktparteien als Quelle

Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.

Kritik an der Regierung

Die Kritik an der ukrainischen Regierung wird mit jeder Stunde, die die Männer näher an ihren Tod rücken, unverhohlener. "Schade, dass uns ständig gesagt wird: 'Morgen helfen wir euch!' So war es im März, im April und im Mai", sagt der stellvertretende Kommandeur des Asow-Regiments, Swjatoslaw Palamar.

Passiert sei jedoch nichts. Man sei alleingelassen worden. Die ukrainische Regierung hat sich bisher nicht zu diesen Vorwürfen geäußert.

Präsident Wolodymyr Selenskyj gibt an, militärisch könne man den Männern nicht mehr helfen. Diplomatisch versuche er alles. Und Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch wird bei seiner allabendlichen Diskussion mit dem russischen Anwalt Mark Feygin ausfällig: "Diese ganzen scheiß, ehrenlosen Wichser, die über das Thema spekulieren. Die meinen, es gäbe eine militärische Lösung, aber die Regierung wolle nicht!", flucht er.

Dramatischer Appell verhallt

Es ist heute knapp drei Wochen her, dass Serhij Wolyna, Kommandeur der 36. Marineinfanteriebrigade, erstmals in einem dramatischen Appell die Evakuierung in einen Drittstaat forderte. Doch schon damals habe es kaum Hoffnung für die Männer gegeben, sagen manche.

Russland werde nicht akzeptieren, dass ukrainische Kämpfer vor ihren Augen ausgeflogen werden, sagte der Militärhistoriker Sönke Neitzel dem "Spiegel". Er glaube nicht, dass Russland ein Zeichen der Humanität setzen wolle.

Und so steht Wolyna mittlerweile die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Er ist gerade 30 Jahre alt, verheiratet, hat einen kleinen Sohn.

Aus den Bunkern des Stahlwerks heraus ändert er immer wieder sein Facebook-Profilbild. Die Bilder zeigen keinen Soldaten, sie zeigen einen Familienmenschen. Wolyna mit Frau, mit Sohn, alle zusammen irgendwo am Meer. Es sind Bilder aus einer anderen Zeit.

Blick auf das Gelände der Asowstahl-Fabrik in Mariupol (Ukraine)

Irgendwo im Untergrund dieser Gebäude harren die Kämpfer des Asow-Regiments aus - Hoffnung gibt es kaum noch für sie.

"Reality-Show aus der Hölle"

Die Nachrichten, die er aus dem Stahlwerk schickt, klingen immer ohnmächtiger. "Wie es mir geht?", schreibt er vor wenigen Tagen auf Instagram. "Es scheint, als befände ich mich in einer Reality-Show aus der Hölle, in der wir ums Überleben kämpfen und die ganze Welt nur eine interessante Geschichte sieht. Aber das hier ist kein Film und wir keine fiktiven Charaktere. Das ist das wahre Leben. Schmerz, Leid, Hunger, Qual, Tränen, Angst, Tod - alles echt!"

Als Wolyna diese Worte schreibt, stirbt irgendwo in Asowstahl Olgas Mann. Er ist einer von drei Soldaten, die die Rettung der angeblich letzten Zivilisten aus den Bunkern nicht überleben. Maryna hat seit Wochen kein Lebenszeichen von ihrem Mann erhalten. Kateryna nur das allmorgendliche: "Wir halten durch." Und: "Ich liebe dich."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 10. Mai 2022 um 12:00 Uhr.