Wladimir Putin breitet bei einer Pressekonferenz in Moskau (Russland) die Arme auseinander

Russland und Nord Stream 1 An "dieser Geschichte" nicht schuld

Stand: 21.07.2022 02:06 Uhr

Putin und die russische Führung haben vorgebaut. Unabhängig von der Frage, ob wieder Gas durch Nord Stream 1 fließt oder nicht, haben sie ein Narrativ vorbereitet, das nur einen Schuldigen kennt.

"Starke Ideen für eine neue Zeit" - das war der Titel einer Konferenz, bei der Russlands Präsident Wladimir Putin, wie so oft, auch wieder einmal über das eine, große Thema sprach: Gas. Und wie im Schulunterricht erklärte, dass Russland jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas durch Nord Stream 1 pumpe. "Und wie machen wir das? Mit Gaspumpmaschinen des Siemens-Konzerns."

Und diese Gasturbinen könnten, wie schon in der Vergangenheit mehrmals durch den Kreml gewarnt, nun der Grund dafür sein, dass der Gashahn nicht wieder voll aufgedreht wird. An Russland würde die eine in Kanada gewartete Turbine für Nord Stream 1 jetzt zwar zurückgeliefert. Aber: In welcher Qualität werde diese zurückgegeben, fragte Putin.

Interpretationsfähiges Gedankenspiel

Der russische Präsident lieferte sogleich eine eher an Verschwörungstheorien erinnernde mögliche Antwort: "Vielleicht schaltet sich die Turbine an einem bestimmten Moment einfach ab? Das war's, Nord Stream 1 wird gestoppt." Putin lachte kurz auf, ließ aber offen, was genau er damit meint.

Kurz zuvor hatte er Kanada unterstellt, dass sie die Siemens-Turbine nur deshalb nicht zurückschicken würden, weil sie selbst Öl und Gas nach Europa verkaufen wollten. Und nun ein automatischer Abschaltmechanismus, der heimlich verbaut, Nord Stream 1 abstellen würde? 

Lawrow stimmt ein

Es klingt krude, passt aber in die immer wieder wiederholte russische Erzählung: dass Russland an der ganzen "Geschichte" nicht schuld sei. Das erklärte auch der russische Außenminister Sergej Lawrow noch einmal am Mittwochmorgen, dem Tag vor dem geplanten Ende der Wartungsarbeiten an Nord Stream 1.

Europäer selbst würden die Verantwortung für "diese Geschichte" tragen, so Lawrow. "Sie wollen unter solchen Bedingungen leben. Sie wollen sich von den guten Beziehungen frei machen, die über lange Jahrzehnte hinweg in den Bereichen Energie, Logistik oder Verkehrskommunikation gewachsen sind. Bitte schön! Das ist Ihre Wahl."

Sollte man im Winter in Europa nun frieren, dann würde man sich darüber in Russland nicht freuen. "Aber uns große Sorgen machen, werden wir uns im Grunde genommen auch nicht." Russland müsse hierzu eine distanzierte Position einnehmen.

Gazprom legt Zahlen vor

Erst vergangene Woche veröffentlichte Gazprom aktuelle Zahlen zu den getätigten Gaslieferungen in der ersten Hälfte dieses Jahres. Bis Mitte Juli seien die Gasexporte in das "ferne Ausland", also Europa, um 33,1 Prozent gesunken: 35,6 Milliarden Kubikmeter weniger seien im Vergleich zur Vorjahresperiode exportiert worden, erklärte der russische Staatskonzern.

Da zeitgleich aber die Gasexporte nach China über die Gaspipeline "Kraft Sibiriens" gestiegen seien, hätte Gazprom in diesem Jahr alles in allem nur zehn Prozent weniger exportiert als im gleichen Zeitraum 2021.

Ein Brief an die Versorger

Anfang der Woche berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass bei mindestens zwei europäischen Energieversorgern ein Brief aus Moskau angekommen sein soll: Darin warnte der russische Staatskonzern Gazprom, dass ab Mitte Juli die Lieferverpflichtungen nicht mehr eingehalten werden könnten. Die Ursache hierfür sei "Force Majeure", also höhere Gewalt.

Für den unabhängigen Energieanalysten Michail Krutichin allerdings ist ganz klar, was hier die "höhere Gewalt" sei: "Das Gas gibt es. Die Rohre gibt es. Nichts stört. Auch technisch stört nichts." Einzig die Entscheidung des russischen Präsidenten sei die "höhere Gewalt".

Zahlenspiele und Kenntnisse

Putin selbst aber rechnete zuletzt beim Treffen der Regierungschefs der Türkei, des Irans und Russlands vor, dass mehrere der insgesamt sechs verbauten Siemens-Turbinen kaputt seien. Eine würde am 26. Juli gewartet werden, bei einer anderen sei die Innenwand beschädigt, das könne Siemens bestätigen.

Bei dem Energieexperte Krutichin ist allerdings die Rede von insgesamt acht Turbinen, auch Reserve gebe es standardmäßig und selbst, wenn es nicht Turbinen gäbe, hätte Russland Lieferungen über beispielsweise Polen dazu kaufen können. Hat es aber nicht. 

Es ist eine Rechnung, die für Außenstehende nicht transparent ist. Die Putin allerdings für seine eigenen Zwecke zu nutzen weiß - und so nach außen hin nicht nur Transparenz zu wahren behauptet, sondern auch bewiesen sehen möchte: Russland sei an "dieser Geschichte" nicht schuld.



Annette Kammerer, Annette Kammerer, ARD Moskau, zzt. Berlin, 21.07.2022 05:18 Uhr