Russische Offensive in der Ukraine Lage im Raum Charkiw spitzt sich zu
Die Lage rund um die ukrainische Stadt Charkiw spitzt sich immer weiter zu. US-Außenminister Blinken hat weitere Hilfen zugesagt, in Kiew macht Präsident Selenskyj Druck. Derweil wird die Kritik an der Verteidigung lauter.
Sie sind mit die letzten Bewohnerinnen und Bewohner von Wowtschansk, die die ukrainische Polizei aus der umkämpften Stadt in Sicherheit bringen kann. Hastig konnten viele nur noch wenige Tüten packen. 300 Menschen sollen nach offiziellen Angaben noch in der Kleinstadt an der russisch-ukrainischen Grenze ausharren. Sie noch zu retten, werde schwer bis unmöglich, sagt Dmytro Nowytskyj von der lokalen Polizei gegenüber ukrainischen Medien:
Die Menschen kommen uns schon zu Fuß entgegen, weil die Telefonverbindung sehr schlecht ist. Man kann sie nicht erreichen. Dort in der Stadt steht alles in Flammen. Die ganze Stadt Wowtschansk brennt, die Wälder stehen in Flammen.
Karte der Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
Tausende Menschen sind auf der Flucht aus dem Nordosten der Ukraine. Sie fliehen vor einer zweiten russischen Besatzung. So auch Oleksij Jeremin, der seinen Sohn auf dem Arm hält.
Als unsere Armee uns befreit hat, haben wir uns besser gefühlt, wir hatten nicht so viel Angst. Aber jetzt ist es schwer. Es gibt Beschuss, mein Sohn hat Angst. Ich dachte, er würde nie wieder sprechen. Ich weiß nicht, was wir den Russen getan haben.
Kritik an Verteidigung wird lauter
Mittlerweile werde auch auf den Straßen der Stadt Wowtschansk gekämpft, geben ukrainische Behörden an. Und auch an anderer Stelle musste sich das ukrainische Militär zurückziehen. Schwere Kämpfe toben in der Region Charkiw - und es wird Kritik laut. Die Verteidigung der Region sei schlecht vorbereitet gewesen, sagen Journalisten und einzelne Soldaten.
Der Ukraine stehe ein schwerer Sommer bevor, meint der Parlamentsabgeordnete Serhii Rachmanin gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. "Die nächsten drei Monate werden für die Ukraine von großer Bedeutung sein", sagt er. Die Russen nutzten gerade ein Zeitfenster für einen Angriff.
Die ukrainischen Streitkräfte seien schwächer geworden, und die Russen spürten das: "Sie haben genügend Ressourcen - Waffen, Munition, Personal - angehäuft und versuchen nun, ein Maximum ihrer Reserven zu verbrauchen. Sie versuchen, unsere Streitkräfte auf der gesamten Frontlinie zu schwächen."
Blinken verspricht weitere Militärunterstützung
US-Außenminister Antony Blinken ist ein leidenschaftlicher Hobby-Gitarrist. Das zeigte er bei seinem zweitägigen Besuch in Kiew. "Keep on rocking in the free world" sang er an einem Abend in einer Kiewer Kneipe. Der Auftritt gefiel angesichts der schwierigen Frontlage nicht allen.
Am nächsten Tag dann versprach Blinken weitere Militärunterstützung im Wert von etwa zwei Milliarden Dollar - und betonte: "Wir bringen Munition, gepanzerte Fahrzeuge, Raketen und Luftabwehrsysteme schnell an die Front, um Soldaten und Zivilisten zu schützen." Die Luftabwehr habe oberste Priorität.
Selenskyj macht Druck
Die Großstadt Charkiw im Osten der Ukraine ist den russischen Luftangriffen nahezu schutzlos ausgesetzt. Zwei große Wärmekraftwerke konnte Russland wegen fehlender Flugabwehr mittlerweile vollständig zerstören. Und wegen knapper Reserven haben die ukrainischen Energielieferer schon jetzt mit geplanten Notfallabschaltungen der Stromversorgung begonnen.
Präsident Wolodymyr Selenskyj machte daher auch nach dem Besuch Blinkens Druck. "Wir müssen den Lieferprozess erheblich beschleunigen", fordert er. Derzeit sei die Zeitspanne zwischen der Ankündigung von Paketen und dem tatsächlichen Erscheinen von Waffen an der Front zu groß. Es sei wichtig, die Umsetzung und die Logistik effizienter zu gestalten. Man habe auch über Flugabwehrsysteme gesprochen - vor allem für die Stadt und Region Charkiw. Zwei "Patriot"-Flugabwehrsysteme würden die Lage in der Region bereits deutlich verbessern, betont der ukrainische Präsident.
Doch es ist nicht nur ausländische Hilfe, die fehlt. Die Ukraine muss Reserven bilden - und dafür neue Soldaten einziehen, um das Personalproblem nach monatelangem Ringen zu beheben.