Der brasilianische Profi-Ruderer Evaldo Becker läuft durch eine überschwemmte Straße in Porto Alegre.
reportage

Überschwemmungen in Brasilien Hochwasserhilfe statt Olympiastart

Stand: 18.05.2024 10:53 Uhr

Südbrasilien erlebt die schlimmste Hochwasserkatastrophe seiner Geschichte. Tausende Freiwillige helfen, auch Evaldo Becker. Dafür hat der Ruderer kurzentschlossen seinen Traum von Olympia aufgegeben.

Von Anne Herrberg, ARD Rio de Janeiro und João Soares, zzT. Porto Alegre

Nahrungsmittel, Wasser und Decken sind in den Hilfspaketen, die die Helfer im Akkord von einem zum anderen werfen. Alle paar Minuten wird hier, an der Hafenmauer von Porto Alegre, ein neues Boot beladen und zu Wasser gelassen. Es muss schnell gehen, denn der Guaíba-Fluss hat einen neuen Rekord-Pegelstand erreicht - immer noch liegen große Teile der Millionenmetropole in Brasiliens südlichstem Bundesstaat unter Wasser.

Hochwasser gab es hier immer wieder, "aber nicht so: Hier standen Häuser bis unters Dach unter Wasser, das gab es noch nie", sagt Evaldo Becker. Der drahtig-muskulöse Mann Anfang 20 steht bis zu den Waden in der schlammbraunen Brühe, und zeigt auf eine Gruppe Baumwipfel, die weit hinten aus den Fluten ragen - dort liegt die Garage seines Ruderklubs Gremio do Uniᾶo. "Wir haben hier im Fluss immer für Olympia trainiert", sagt Becker. Ihm und seinem Partner im Doppelzweier-Leichtgewicht fehlte die letzte Qualifikationsregatta in Luzern, um sich für Paris 2024 zu qualifizieren.

Doch dann kam das Wasser und hat auch den Klub überflutet. Die extra aus Deutschland importierten Empacher-Wettkampfboote sind zertört. "Immer mehr Leute mussten evakuiert werden - auf Surfbrettern und Luftmatratzen. Alles, was schwamm, war im Einsatz. Es war ein Chaos. Irgendwann sagte ich zu meinem Ruderpartner: Piedro, vergiss das Training für Olympia, wir müssen den Leuten hier helfen."

Die brasilianische Profi-Ruderer Piedro Tuchtenhagen (L) and Evaldo Becker bei einer Olympia-Qualifikation in Rio de Janeiro (Archiv März 2024)

Evaldo Becker (rechts) und sein Ruderpartner Piedro Tuchtenhagen bei einem Olympia-Qualifikationsrennen in Rio de Janeiro im März.

Erste Hilfe statt Olympia-Qualifikation

Der Athlet hängte den Traum von Olympia an den Nagel, zog einen Neoprenanzug an und fährt nun Hilfseinsätze - seit Tagen ohne Pause, wie Tausende weitere Freiwillige, Feuerwehrleute und Soldaten. Es gibt niemanden, der nicht auch selbst betroffen ist. Es ist die bisher schlimmste Klimakatastrophe Südbrasiliens, mehr als 150 Menschen kamen ums Leben, 600.000 haben ihre Häuser verloren.

"Das Wasser kam so schnell", erinnert sich Feuerwehrmann Marcos Eduardo Motta. "Unser Haus ist bis zum zweiten Stock überschwemmt, es gab Leute, die es nicht geschafft haben." Trotzdem ist auch er jeden Tag im Einsatz. Die Straßen sind Flüsse, aus denen Autodächer ragen, in denen Kühlschränke, Müll, Holzbalken schwimmen. Von den einfach gebauten Häuschen ragt nur noch das Obergeschoss aus dem Wasser. Trotzdem harren hier immer noch Bewohner aus, auch Felipe Ataújo da Silva: "Ich habe hier einen Laden, auch wenn ich alles verloren habe - mein Haus, mein Auto - werde ich bleiben." Das Problem sei das Trinkwasser: "Hier herrscht ein Krieg um Trinkwasser", sagt er. Sechs Flaschen bleiben ihm und den rund 150 Fischern noch, die hier die Stellung halten.

Nach der Evakuierung kommen die Überfälle

"Fühlt ihr euch sicher?", fragen die Helfer, die sich an einer Stromleitung festhalten, um in der starken Strömung nicht abzutreiben. Elektrizität gibt es hier schon lange nicht mehr. Nachts wird es stockdunkel, vielerorts werden inzwischen Überfälle gemeldet, erklärt Becker. In manchem Viertel bräuchten Helfer Polizeischutz. Ladenbesitzer Felipe aber hebt den Daumen: "Hier sind wir eine Familie", sagt er. Die Helfer versprechen wiederzukommen, lassen eine Decke da - es ist Spätherbst in Südamerika, die Temperaturen sind eingebrochen, fallen nachts auf knapp fünf Grad.

Und: Der Regen soll wiederkommen, sagt Feuerwehrmann Motta. Nachdem der Pegel etwas gefallen war, steigt er wieder. Das Problem: "Hier fließen alle großen Flüsse der Region zusammen, aber es gibt nur einen Abfluss. Der starke Wind allerdings, der vom Meer her bläst, lässt das Wasser stauen und nicht abfließen."

Die Behörden schätzen, es könnte eventuell noch Wochen dauern, bis das Wasser wieder gesunken ist. Zehntausende Menschen harren inzwischen in Notunterkünften aus - auch im Ruderklub des Olympia-Athleten Becker, gegründet einst von einer Gruppe deutscher Einwanderer. 250 Menschen schlafen nun in seinen Trainingshallen.

Wie geht es weiter?

"Noch sind wir dabei, den Brand zu löschen und erste Hilfe zu leisten, aber dann beginnt eine neue Herausfoderung. Was können wir den Leute anbieten, die realisieren, dass sie vor dem Nichts stehen?", fragt sich Sozialarbeiterin Nayara Viera. Nicht nur Häuser wurden zerstört. Auch Infrastruktur, Produktionsstätten und landwirtschaftliche Nutzflächen. Zerstört wurde auch Vertrauen.

In den vergangenen Jahren wurde der Staat zunehmend verkleinert, immer mehr, vor allem im sozialen Bereich, wurde definanziert. Nun soll es Milliardenhilfen vom Bund geben, umgerechnet knapp neun Milliarden Euro hat Präsident Luiz Inácio Lula da Silva versprochen. Viera bleibt skeptisch: "Was wird damit geschehen? Gibt es Ideen, was wir mit diesem Geld machen?"

Präsident da Silva, der die Region Mitte der Woche zum dritten Mal besucht hat, kündigte an, für die Flutopfer Häuser auf dem privaten Immobilienmarkt zu kaufen, damit die Betroffenen nicht dauerhaft in Notunterkünften und bei Verwandten leben müssen. Auch zwangsversteigerte Grundstücke sollen für Flutopfer erworben werden. Zuvor hatte er gefordert, in Zukunft präventiver zu arbeiten, um die Auswirkungen extremer Wetterereignisse zu verringern. "Wir müssen aufhören, dem Unglück nachzujagen. Wir müssen im Voraus sehen, welche Unglücke passieren könnten, damit wir arbeiten können."

Extremwetter - aber auch Nachlässigkeit

Experten sagen: Die Überschwemmungen seien eine deutliche Folge extremer Klimaphänomene wie El Niño, welches durch die Erderwärmung noch verstärkt wird - aber auch von politischer Nachlässigkeit. Der Bundesstaat Rio Grande do Sul sei unvorbereitet gewesen. Selbst der Hochwasserschutz der Millionenmetropole Porto Alegre sei veraltet, Schleusen funktionierten zum Teil gar nicht mehr. Sickerflächen seien zugebaut worden. "Die Stadt wuchs, Jahre vergingen und nichts wurde getan", sagt Sozialarbeiterin Viera, "Im Gegenteil - es wurde zerstört, abgeholzt und zugebaut."

Wer diese Katastrophe miterlebt hat, den werde diese Erfahrung nicht mehr loslassen, sagt Profi-Ruderer Evaldo Becker. Und Feuerwehrmann Motta blickt pessimistisch in die Zukunft: "Ich glaube, so etwas wird in Zukunft zur Normalität werden. Wir werden uns daran gewöhnen und anpassen müssen."

Anne Herrberg, ARD Rio de Janeiro, tagesschau, 18.05.2024 08:03 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 18. Mai 2024 um 09:47 Uhr.