Bernie Bluestein vor einem Nachbau des aufblasbaren Panzers.

US-Geschichte im Zweiten Weltkrieg Wie eine Phantom-Armee die Nazis täuschte

Stand: 08.05.2024 11:50 Uhr

Eine US-Einheit aus Hunderten Künstlern, die mit aufblasbaren Panzern und Tonbandgeräuschen die Wehrmacht in die Irre führte: Lange war die Existenz der "Ghost Army" geheim. Nun werden die Veteranen geehrt.

Bernie Bluestein war Künstler, kein Soldat. Kämpfen wollte er nicht, aber etwas für sein Land tun, das wollte der junge Kunststudent aus Cleveland im US-Bundesstaat Ohio dann doch. 1943 stieß er am Schwarzen Brett seiner Uni auf eine Notiz der US-Armee. "Sie wollten junge Künstler wie mich für eine neue Einheit anwerben, die Tarnungen herstellen sollte", erzählt der heute 100 Jahre alte Kriegsveteran. Kampfeinsätze waren ausdrücklich ausgeschlossen - und so unterschrieb er im Frühjahr 1943.

Heute ist Bluestein einer der letzten, die von einem langgehüteten US-Militärgeheimnis erzählen können. Denn der damals 19-Jährige hatte - ahnungslos - bei der "Ghost Army" angeheuert, bei der Phantom-Einheit des US-Militärs.

Am D-Day nur zugesehen

"Die Ghost Army war eine Täuschungseinheit", sagt Rick Beyer, ein Filmemacher, der die Geschichte ausgegraben und bekannt gemacht hat. Ihr Auftrag sei es gewesen, die Deutschen über die Größe und den Standort anderer US-Einheiten in die Irre zu führen.

Rekrutiert wurde die Einheit aus Künstlern, Ingenieuren, Berufssoldaten und Wehrpflichtigen. In den Monaten vor ihrem Einsatz entwickelten sie aufblasbare Panzer, Flugzeuge und Waffen und bauten gewaltige Lautsprecher, um Tonaufnahmen rollender Panzer und marschierender Truppen kilometerweit ausstrahlen zu können.

Als am 6. Juni 1944 die alliierten Truppen in der Normandie landeten, um Westeuropa von den Nazis zu befreien, schauten die 1.100 Mann der Ghost Army von England aus zu. Sie setzten erst ein paar Tage später über, als sich die Lage etwas beruhigt hatte.

Zwei Frauen halten eine Medallie.

Karen und Debra sind stolz auf Al Albrecht - auch wenn sie sich zu Lebzeiten über die Kriegserlebnisse ihres Verwandten wunderten.

Abhauen, wenn die Wehrmacht kommt

Mit dabei war Al Albrecht aus Milwaukee, Wisconsin, damals mit gerade einmal 17 Jahren einer der jüngsten Soldaten. Später habe er immer erzählt, dass er den größten Ghettoblaster aller Zeiten gefahren habe, sagt Tochter Karen über ihren inzwischen verstorbenen Vater. Mit dem Lärm und den aufblasbaren Panzern sollte die "Ghost Army" die Aufmerksamkeit der Deutschen auf sich ziehen. Sobald die Wehrmacht tatsächlich anrückte, mussten sie so schnell wie möglich die Luft aus allem ablassen und abhauen, so schilderte es Albrecht später den Töchtern.

John Jarvie aus New Jersey gehörte zu den vielen Künstlern, die bei der "Ghost Army" für die optischen Täuschungen verantwortlich waren und in ihrer Freizeit unermüdlich malten und zeichneten. Seine Nichte Martha Gavin erinnert sich an all die Aquarelle von zerstörten Kirchtürmen, die ihr Onkel John aus dem Krieg mitgebracht hatte. "Ich habe gefragt: Warum malt Onkel John immer kaputte Kirchen, warum malt er keine ganzen Kirchen?"

Goldmedaille des US-Kongress

Aber ihr Onkel John sprach nicht über den Krieg - weil er nicht durfte. 50 Jahre lang blieb der Einsatz der "Ghost Army" als Militärgeheimnis unter Verschluss. Erst 1995 wurde bekannt, dass die "Ghost Army" bis Kriegsende mehr als 20 Mal im Einsatz war - und wie erfolgreich sie war: Etwa, dass sie die Deutschen ablenkte, als der legendäre US-General Patton die Festung Metz in Frankreich erobern wollte. Und dass sie 1945 die Nazis am Rhein täuschte, damit die US-Armee an einer anderen Stelle sicher den Fluss überqueren konnte.

Filmemacher Beyer glaubt, dass die Phantom-Armee sehr wirkungsvoll war und Tausende Leben gerettet hat. Das glaubt inzwischen auch die US-Politik: Im März zeichnete der Kongress die "Ghost Army" mit seiner Goldmedaille aus. Zu spät für die allermeisten: von den 1.100 Soldaten sind nur noch sieben am Leben.

Katrin Brand, ARD Washington, tagesschau, 08.05.2024 09:25 Uhr