Interview

Interview mit Islamwissenschaftlerin "Keine Angst vor einer islamistischen Regierung"

Stand: 31.01.2011 17:56 Uhr

Käme bei freien Wahlen in Ägypten die Muslimbruderschaft an die Regierung? Kein Grund zur Sorge, meint Islamwissenschaftlerin Sonja Hegasy im Interview mit tagesschau.de. An der Macht würden die Islamisten zu Realpolitikern werden. Extremisten hätten keinen Rückhalt in der ägyptischen Bevölkerung.

tagesschau.de: Kann die ägyptische Regierung die Proteste mit Reformversprechen beschwichtigen, wie sie es jetzt anscheinend versucht?

Sonja Hegasy: Das ist schwierig, weil es diese Reformversprechen schon seit längerem gibt. Aber auch nach der Regierungsumbildung sind zwei Drittel der Minister dieselben. Auch auf den strategischen Posten im Verteidigungs- und Außenministerium sind dieselben Gesichter zu sehen.

Zur Person

Sonja Hegasy ist Islam- und Politikwissenschaftlerin am Zentrum Moderner Orient (ZMO). Sie beschäftigt sich insbesondere mit Demokratisierungsprozessen in Ägypten und Marokko.

tagesschau.de: Wer trägt den Protest in Ägypten? Sind das vor allem junge, gebildete Leute aus den Städten oder ist es wirklich eine Volksbewegung?

Hegasy: Ich habe mir die Fernsehbilder ganz genau daraufhin angesehen und mit Menschen in Ägypten gesprochen. Es ist auf jeden Fall eine vielfältige Volksbewegung: Studenten und junge Leute, die nicht von den Unis kommen, Frauen und Männer, Frauen mit Kopftüchern und ohne Kopftücher. Zum Tahrir-Platz bringen Demonstranten auch ihre Kinder mit.

"Keine breite Mehrheit hinter ElBaradei"

tagesschau.de: ElBaradei will sich an die Spitze der Proteste setzen. Kann er das denn?

Hegasy: In Ermangelung einer wirklichen Führungsfigur sagen manche Ägypter: Das ist jemand, hinter den wir uns stellen könnten. Aber es gibt keine breite Mehrheit, die ihm diesen Auftrag gegeben hat. Von den Oppositionsparteien, die bisher schon im Parlament vertreten waren, kommt sogar scharfe Kritik. Die Wafd-Partei sagt: Für uns spricht ElBaradei nicht.

tagesschau.de: Handelt es sich bei den im Parlament vertretenen Parteien denn um eine wirkliche Opposition zu Mubarak?

Hegasy: Ja, das sind keine Blockflöten. Die Parteien sind unabhängig und zum Teil älter als die Republik Ägypten. Die Wafd-Partei entstand beispielsweise in den 1920er-Jahren. Es gibt auch eine liberale und eine kommunistische Partei. Das Problem ist aber, dass diese Parteien alle sehr klein sind. Das liegt nicht nur an gefälschten Wahlen - sie haben tatsächlich keine großen Bevölkerungsgruppen hinter sich.

Welche Rolle spielt die Muslimbruderschaft?

tagesschau.de: Andererseits gibt es die Muslimbruderschaft, die großen Rückhalt in der Bevölkerung hat.

Hegasy: Die Muslimbruderschaft ist die einzige breite gesellschaftliche Bewegung. Sie ist offiziell keine Partei, weil der Staat keine Parteien auf religiöser Basis erlaubt. Aber die Muslimbruderschaft ist geduldet. Ihre Kandidaten sind bei vergangenen Parlamentswahlen über verschiedene Listen ins Parlament gewählt worden.

tagesschau.de: Warum hat sich die Bruderschaft bei den Protesten eher zurückgehalten?

Hegasy: Dazu gibt es zwei Theorien. Manche Ägypter sagen, die Proteste, die nach dem Freitagsgebet vergangene Woche eskaliert sind, seien durch die Muslimbrüder angefacht worden. Die Muslimbrüder würden sich im Hintergrund halten, damit das Machtvakuum noch größer würde, um dann an einem bestimmten Punkt auf den Plan zu treten. Ich glaube das allerdings nicht. Die andere Theorie besagt, dass die Demonstranten auf den Straßen eben mehrheitlich keine Islamisten sind.

tagesschau.de: Wie radikal ist denn die Muslimbruderschaft?

Hegasy: Ich würde sie inzwischen als sehr gemäßigt bezeichnen. Die Bewegung hat sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. Die Muslimbruderschaft ist nicht mehr mit der Bewegung zu vergleichen, die sie bei ihrer Gründung oder später in den 1970er-Jahren war.

tagesschau.de: Wären die Muslimbrüder bei freien Wahlen die großen Gewinner?

Hegasy: Das ist sehr schwierig zu sagen. Sie könnten die stärkste Partei werden, aber das heißt nicht, dass sie eine sichere Mehrheit erringen könnten. Eine islamistischer Staatsstreich steht nicht zu befürchten.

"Unterstützung Mubaraks wäre gefährlich"

tagesschau.de: Israel fordert laut einem Bericht der Zeitung "Haaretz" seine westlichen Verbündeten über diplomatische Kanäle auf, sich für Stabilität in Ägypten einzusetzen – das heißt Mubarak.

Hegasy: Berichte, wie die von "Haaretz" wundern mich nicht. Aber ich halte sie derzeit für destabilisierend und gefährlich. Das Hauptargument dafür kennen wir seit 30 Jahren: Die ägyptische Regierung sei der einzige Freund Israels in der Region, und deswegen machen wir bei allem, was sie tut, die Augen zu. Warum soll es in der arabischen Welt keine Realpolitiker geben? Ich kann mir durchaus vorstellen, dass auch eine moderat-islamistische Regierung mit Israel verhandelt beziehungsweise den bestehenden Kalten Frieden nicht aufkündigt. Ähnliches haben wir in der Türkei gesehen. Die Angst vor einer islamistischen Regierung in Ägypten teile ich in keiner Weise. Die Ägypter selbst haben in den 90er-Jahren so stark unter dem islamistischen Terror gelitten, dass extrem-radikale Strömungen nicht mehr unterstützt würden.

tagesschau.de: Auch für die USA ist Mubarak ein treuer Verbündeter. Wie werden sie sich jetzt verhalten?

Hegasy: Es ist ganz deutlich, dass die USA derzeit sehr zurückhaltend agieren und öffentlich auf keinen Fall als Kraft gesehen werden möchten, die für Mubarak eintritt oder ElBaradei unterstützt. Das halte ich auch für sinnvoll, um dem Vorurteil entgegenzuwirken, dass die eine oder andere Seite nur mit Hilfe der USA an die Macht gekommen ist.  Die Amerikaner sind schon länger selbstkritisch und sagen, wir haben zu lange nur auf Stabilität in der Region geschaut – zum Beispiel in Saudi-Arabien.

Das Interview führte Fiete Stegers, tagesschau.de