Streit der führenden Wirtschaftsnationen Die Krise ist fast vorbei - und jetzt?

Stand: 11.11.2010 17:38 Uhr

Die Krise scheint es nicht mehr zu geben - die Einigkeit aber auch nicht. Rund um den G20-Gipfel streiten die führenden Wirtschaftsnationen über den Nachkrisenkurs. Es geht vor allem um Leistungsbilanzen und Geldpolitik. Die USA scheinen alleine dazustehen - aber vielleicht sind die Gräben doch weniger tief als gedacht.

Von Fabian Grabowsky, tagesschau.de

Die gute Nachricht: Die Weltwirtschaft hat die Krise einigermaßen gemeistert - schneller, nachhaltiger und einiger als erwartet. Die schlechte Nachricht: Die Einigkeit scheint verschwunden. Wie es nach dem Rettungskraftakt weitergehen soll, ist heftig umstritten, der Ton war vor dem G20-Gipfel rau - zumindest in der Öffentlichkeit.

Grund für das Knirschen sind die unterschiedlichen Ausgangslagen. Einerseits sind viele Länder wie Exportweltmeister China und Vizeexportweltmeister Deutschland schwungvoll aus der Krise gekommen. Die USA dagegen dümpeln mit hoher Arbeitslosigkeit, hohem Haushaltsdefizit und hohem Leistungsbilanzdefizit vor sich hin.

Die drei Länder stehen auch für konkurrierende Ansätze, wie es zu jenem "robusten, nachhaltigen und ausgewogenen globalen Wachstumsprozess" kommen soll, den sich die G20-Länder 2009 auf dem Pittsburgher Gipfel hingebungsvoll versprachen. "Die Positionen sind extrem", urteilt Konjunkturexperte Michael Bräuninger vom Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI). Vor allem auf zwei Gebieten kollidieren die Interessen: Leistungsbilanzen sowie die Geld- und Währungspolitik.

Erstes Problem: Leistungsbilanzen

Sind deutsche Waren international zu erfolgreich? Fakt ist: Im September erreichten die deutschen Ausfuhren den höchsten Stand seit Oktober 2008. Der Handelsüberschuss, also die Differenz von Exporten und Importen, wird 2010 bei sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen.

Das gefällt nicht allen Handelspartnern: Sie finden, dass die deutschen Exporte ihre eigenen Leistungsbilanzen belasten, weil Deutschland zu wenig importiere. Schon im Frühjahr hatte Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde kritisiert, Deutschland müsse die Binnennachfrage stärken. US-Finanzminister Timothy Geithner setzte jüngst folgende Idee in die Welt, um "globale Ungleichheiten" abzubauen: Stark abweichende Handelsüberschüsse sollten bei vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts gebremst werden.

Den Exportgiganten China und Deutschland gefällt dieser Vorstoß ihres Hauptabnehmers USA natürlich nicht. "Quantifizierte Ziele" würden nicht mitgetragen, blockte Kanzlerin Angela Merkel Geithners Vorstoß. Experten sehen das genauso: "Völlig absurd und nicht durchsetzbar", urteilt Konjunkturexperte Bräuninger. Die vier Prozent widersprächen dem Freihandelsgedanken, Exporte ließen sich zudem nicht beliebig steuern. "Völlig unsinnig", meint auch Claudia Schmucker von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Geithners Zahl sei zudem willkürlich - "warum nicht drei Prozent?"

Tatsächlich stößt das US-Projekt beim G20-Treffen auf einen unüberwindlichen Widerstand, an dem es scheitern wird: Neben Deutschland und China sind auch die EU-Kommission, die meisten EU-Staaten und beispielsweise Brasilien dagegen. Es sieht nach einem Etappensieg für Merkel aus: "Ich glaube, von diesem Ansatz sind jetzt alle weg", bilanzierte sie trocken nach einem einstündigen Treffen mit US-Präsident Barack Obama. Auch wenn man natürlich generell über Ungleichgewichte reden müsse - aber nicht, indem man die Wettbewerbsfähigkeit "auf eine Zahl reduziere".

Die USA müssen ihren Export selbst anschieben

Unbestritten ist aber einerseits, dass besonders das Defizit der größten Volkswirtschaft USA ein Problem für alle ist. Die Lösung liegt aber in den USA. Notwendig wären langfristige Strukturreformen. Langfristiges ist aber gerade nach den Kongresswahlen nicht mehr en vogue. Bis sich das ändert, interessiert sich niemand für Waren etwa aus der rostigen US-Stahlindustrie.

Unbestritten ist auch, dass es beispielsweise bei der deutschen Binnennachfrage Luft nach oben gibt. Wegen der boomenden Konjunktur und des genesenden Arbeitsmarkts werden die Deutschen aber schon bald mehr kaufen. Weitere Konjunkturprogramme hat die Bundesregierung wegen der Rekordverschuldung tief im Giftschrank vergraben. Und auf den Export lässt hierzulande niemand etwas kommen, sondern verweist auf Strukturreformen und "Made in Germany"-Qualität.

Zweites Problem: Die Fed im Kaufrausch ...

Die Kritik aus Berlin an der Fed-Entscheidung prasselte nur so: "Ich sehe das mit Sorge", mäkelte Wirtschaftsminister Rainer Brüderle über "planwirtschaftliche Experimente". "Sie werden der Welt damit zusätzliche Probleme schaffen", holzte Finanzminister Wolfgang Schäuble.

Grund für ihren Ärger: Die US-Notenbank hatte angekündigt, sie werde weitere Staatsanleihen im Wert von 600 Milliarden US-Dollar aufkaufen, um Konjunktur und Arbeitsmarkt zu reanimieren. Dass der Dollar-Kurs dadurch niedrig gehalten wird, freut die US-Exportwirtschaft.

Das Urteil der Experten über den Fed-Coup ist differenzierter als das der Politiker - auch wenn Schmucker von einer "verfehlten Geldpolitik aus Angst vor einer neuen Rezession" spricht. Konjunkturexperte Bräuninger sieht die Fed-Maßnahme als "letzten Versuch" der USA, aus der Krise zu kommen. Die Folgen dieses beispiellosen Versuchs seien unklar, vielleicht provoziere er in den kommenden Jahren auch eine Inflation. Trotzdem habe er sich über die harschen Berliner Attacken gewundert.

... und der zu bescheidene Yuan

Aber auch Chinas Geldpolitik sorgt seit Monaten für Ärger. Der Vorwurf, vor allem aus Washington: Die im Gegensatz zur Fed staatlich kontrollierte chinesische Zentralbank halte den Wechselkurs des Renimbi (Recheneinheit: Yuan) niedrig, um wiederum die Exporte auf unfaire Weise billig zu halten. Der größte Teil des US-Defizits ergibt sich aus dem Handel mit China. Noch vor den Wahlen beschloss der US-Kongress eine Gesetzesvorlage mit Strafzöllen für Länder, die ihre Währung deckeln. Adressat: Peking.

US- und europäische Experten gehen tatsächlich davon aus, dass die chinesische Währung um bis zu 40 Prozent unterbewertet ist. China versprach im Juni Besserung, seitdem wurde der Yuan leicht aufgewertet.

Aber eine plötzliche, massive Aufwertung? Nein, meinen nicht nur die Chinesen - die zurückkarten: Viele Länder seien stattdessen über das 600-Milliarden-Geschenk der Fed besorgt. Auch deutsche Beobachter sind sich einig: Der Renimbi/Yuan muss wertvoller werden - aber eben nur Schritt für Schritt. Anderenfalls drohe jene Exportwirtschaft zu straucheln, die wesentlich zum Ende der Krise beigetragen habe - mit verheerenden Folgen auch für das fragile soziale Gleichgewicht im Land.

Zum Schluss: Alles nur Lärm?

Aber vielleicht sind sich die Akteure einiger, als es scheint. Wie meistens unterscheidet sich das, was sie vor offenen Türen in die Medienmikrofone sagen von dem, was sie sich hinter verschlossenen Türen in die Tagungsmikrofone sagen. Oft geht es darum, die Akzente zu setzen und die Diskussion zu dominieren. Gerade der wahlpleitengeplagte Obama muss Stärke zeigen. Feindbilder helfen da.

Vieles sei wohl "strategisch überspitzt" gewesen, meint Bräuninger. Auch Schmucker sagt, nach außen seien die USA "sehr forsch" aufgetreten, intern seien die Gespräche sehr konstruktiv. Geithners Vier-Prozent-Idee sei etwa so offensichtlich inakzeptabel, dass sie ebenso offensichtlich eine Nebelkerze sei.

Vielleicht sind die forschen Überspitzungen am Ende auch den Chefs zu viel geworden. Merkel und Obama jedenfalls waren sich bei ihrem Treffen einig, "dass es nicht ideal ist", wenn man vor einem Gipfel "in den jeweiligen Zeitungen der Länder immer Angriffe auf die eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik lesen muss", hieß es danach in deutschen Regierungskreisen. Das wolle man künftig vor Gipfeln mit besseren Konsultationen vermeiden.

Insofern gäbe es bald wieder eine gute Nachricht: Die Einigkeit ist wieder da, zumindest ein bisschen.