Gelände des Kernkraftwerks Saporischschja, Ukraine (Archivbild: 09.07.2019)
Hintergrund

Energienetze und Kraftwerke Wie sicher ist die Stromversorgung der Ukraine?

Stand: 04.03.2022 16:56 Uhr

Der russische Angriff auf das AKW Saporischschja wirft auch die Frage auf, ob die Ukraine die Kontrolle über die Stromversorgung behalten kann. Das Land will ans EU-Netz angeschlossen werden. Wie schnell kann das gelingen?

Von Thomas Spinnler, tagesschau.de

Der russische Beschuss des Atomkraftwerks Saporischschja in der Ukraine hat in Europa und der ganzen Welt große Befürchtungen ausgelöst hinsichtlich möglicher nuklearer Gefahren durch den Krieg im Land. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie die Stromversorgung der Ukraine trotz des russischen Angriffskriegs sichergestellt werden kann - und vor allem von wem.

Die Ukraine verfügt über 15 Atomreaktoren mit einer Gesamtleistung von 13,8 Gigawatt, die auf vier Kraftwerke verteilt sind. Das attackierte Kraftwerk in Saporischschja ist mit sechs Reaktoren Europas größtes Kernkraftwerk. Vier Reaktoren befinden sich am Standort in Riwne, zwei in Chmelnyzkyj und drei bei Mykolajiw.  

Der meiste Strom kommt von AKW

Rund 60 Prozent des Stroms erzielte die Ukraine im Jahr 2021 aus Kernenergie, etwa 29 Prozent aus Steinkohle. Der Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten Nettostromerzeugung lag bei rund zehn Prozent. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, welche überragende Bedeutung für die Versorgung der ukrainischen Bevölkerung und die Infrastruktur den Kraftwerken zukommt.

Sollte die russische Armee die Kontrolle über sie oder über die Kohlekraftwerke erringen, kontrolliert sie auch wesentliche Teile der Stromversorgung - das könnte sich als ein Ziel der Operation erweisen. Zugriff auf die Kraftwerke als zentrale Infrastruktur hat in jedem Fall auch militärisch-strategisch große Bedeutung.      

Not-Synchronisierung angefragt

Für die Ukraine ist eine sichere Stromversorgung entscheidend. Der Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (Entso-E) kündigte Anfang der Woche mit, dass das staatliche ukrainische Energieunternehmen Ukrenergo eine "dringende Anfrage" für eine "Not-Synchronisierung" des ukrainischen Stromnetzes mit dem kontinentaleuropäischen Netz gestellt habe. 

Bislang ist die Stromversorgung der Ukraine nicht ans EU-Netz gekoppelt. Und auch an das russische Stromnetz ist das Land nicht mehr angebunden. Die für Energie zuständigen Ministerinnen und Minister der EU-Mitgliedstaaten haben sich in dieser Woche auf einen Anschluss der Ukraine an das westeuropäische Stromnetz geeinigt - und zwar "so schnell wie möglich", wie EU-Energiekommissarin Kadri Simson versicherte. Aber wie schnell ist es möglich?

Der Anschluss der Ukraine an das EU-Stromnetz ist seit langer Zeit ein Thema. Bereits 2017 hatten der ukrainische Versorger Ukrenergo und Moldaus Netzbetreiber Moldelectrica mit dem Verband der europäischen Übertragungsnetz-Betreiber Entso-E eine Vereinbarung über die Stromanbindung getroffen. Ursprünglich war geplant, das Stromnetz der Ukraine im Jahr 2023 mit dem EU-Netz zu synchronisieren.

Stromnetz im "Inselmodus"

Vom 24. bis zum 26. Februar plante die Ukraine deshalb den isolierten Betrieb des eigenen Stromnetzes im Winter zu testen. Das Land koppelte sich zu diesem Zweck von den Netzen in Russland, Belarus und der EU in einer Art "Inselmodus" ab. Seit 2003 war bereits ein Teil des Stromnetzes in der Westukraine mit den westlichen Nachbarn synchronisiert. Nach einem weiteren Abkopplungstest im Sommer dieses Jahres wollte sich die Ukraine dann im kommenden Jahr endgültig der Entso-E anschließen.

Am 24. Februar als der Test begann, überfiel Russland die Ukraine. Trotz Russlands Aggression und Raketenangriffen auf die kritische Infrastruktur funktioniere das Stromnetz autonom und beweise damit seine Verlässlichkeit, zitiert die Netzzeitung "Politico" diese Woche den ukrainischen Energieminister Herman Haluschtschenko. Nach aktuellen Angaben der Nuclear Energy Agency (NEA) von heute befindet sich das Stromnetz noch immer im "Inselbetrieb".

"Technisch kompliziert"

Aber selbst wenn der Test wohl erfolgreich verläuft, dürfte die Zeit für einen Anschluss äußerst knapp werden: Die nötigen Stromverbindungen herzustellen sei technisch kompliziert und erfordere darüber hinaus tiefgreifende Reformen im ukrainischen Stromsektor, schrieben die Fachleute der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer Studie zum Thema im vergangenen November.

Eine Synchronisierung der Netze mehre die Möglichkeiten, zur gegenseitigen Unterstützung einzuspringen, andererseits wachse aber auch das "Ansteckungspotenzial" bei Problemen, unterstreichen die Experten. Denn wenn die Netze gekoppelt seien, könne ein Stromausfall in der Ukraine auf andere Teile Europas übergreifen.

Gefahren durch Cyberangriffe

Energieexperten weisen auch auf das Problem der Cybersicherheit und die Bedeutung von sicheren Kommunikationswegen hin. Die Ukraine sei in den vergangenen Jahren wiederholt Angriffen auf Teile ihres Stromnetzes ausgesetzt gewesen, stellen die SWP-Experten fest. "Es ist schwierig, die Cyber-Attacken einem staatlichen Verursacher zuzuordnen. In jedem Fall kann aber als gesichert gelten, dass russische Hacker über entsprechende Fähigkeiten verfügen und dass Russland genaue Kenntnisse von der Funktionsweise des ukrainischen Stromnetzes hat“, lautet ihr Fazit.

Laut Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck unterstützt die deutsche Regierung, "dass die Ukraine schneller mit Europa ein gemeinsames Stromnetz bekommt". Das heiße aber auch, dass "die Robustheit gegen Cyberattacken wie gegen Blackouts" gewährleistet sein müsse.

Mit immer härteren russischen Angriffe auf das Land weisen Experten auf drohende Schwierigkeiten der Ukraine hin, noch die Kontrolle über die eigene Stromversorgung zu behalten. Die Bitte der Ukraine um eine schnelle Synchronisierung des Stromnetzes mit den EU-Staaten könnte im Westen auf einige Widerstände treffen.

Wolfgang Vichtl, Wolfgang Vichtl, ARD Wien, 04.03.2022 17:41 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesschau am 03. März 2022 um 17:00 Uhr und das Morgenmagazin am 04. März 2022 um 07:09 Uhr.