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Teuerung von 85,5 Prozent Türkei hat Inflationsspitze noch vor sich

Stand: 03.11.2022 13:09 Uhr

Die türkische Inflation galoppiert immer weiter davon und hat nun den Rekordwert von 85,5 Prozent markiert. Experten sind überzeugt: Die Türkei hat die Inflationsspitze noch nicht erreicht.

Von Angela Göpfert, ARD-Finanzredaktion

Die Inflation in der Türkei hat einen Hochpunkt markiert: Im Oktober lagen die Verbraucherpreise 85,5 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Das ist der höchste Anstieg seit 25 Jahren. Im Vormonat hatte die Teuerung noch 83,4 Prozent betragen. Auf Monatssicht stiegen die Verbraucherpreise im Oktober um 3,5 Prozent.

Doch das Ende der Inflations-Fahnenstange scheint damit immer noch nicht erreicht. Darauf deuten die rasanten Preissteigerungen auf Herstellerebene hin. Die Erzeugerpreise hatten im Oktober um 157,7 Prozent im Jahresvergleich angezogen. Die Verkaufspreise der Produzenten sind ein wichtiger Frühindikator für die Entwicklung der Verbraucherpreise.

Notenbank setzt weiter auf Zinssenkungen

Zu allem Überdruss hält die türkische Notenbank weiter an ihrem unorthodoxen Kurs fest: Anstatt die hohen Teuerungsraten mit Zinserhöhungen zu bekämpfen, senkt sie weiter den Leitzins. Erst vor zwei Wochen gab sie eine erneute Reduzierung des wichtigen Zinssatzes von 12,0 auf 10,5 Prozent bekannt.

Die türkische Notenbank handelte damit einmal mehr auf Geheiß von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der aus unerfindlichen Gründen und entgegen aller ökonomischen Logik Zinssenkungen für ein probates Mittel gegen hohe Inflationsraten hält.

Erdogan bereits im Wahlkampf-Modus?

"Echte Anzeichen einer Inflationsspitze zeichnen sich noch nicht ab", ist auch Tatha Ghose, Londoner Devisen-Experte der Commerzbank, überzeugt und verweist auf die Lohnentwicklung in der Türkei. In der Türkei arbeiten 60 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor, viele davon zum Mindestlohn. Dieser wurde im laufenden Jahr bereits zweimal erhöht: Anfang des Jahres um 50 Prozent und vor kurzem nochmals um 30 Prozent.

"Dieser Mechanismus wird den Aufwärtstrend der Inflation letztlich verlängern", so Devisen-Experte Ghose. "Angesichts der bevorstehenden Wahlen im Juni 2023 darf angenommen werden, dass Erdogan weitere drastische Lohnerhöhungen anbieten wird, um gegen die Folgen dieser hohen Inflationsrate anzugehen."

Lohn-Preis-Spirale nur schwer zu stoppen

In der Türkei ist die befürchtete Lohn-Preis-Spirale damit bereits in vollem Gange. Von einer Lohn-Preis-Spirale sprechen Ökonomen, wenn die Löhne in Erwartung anhaltend hoher Inflationsraten steigen. Dadurch verfestigt sich wiederum der Aufwärtstrend bei den Verbraucherpreisen, was wiederum zu höheren Lohnabschlüssen führt.

Wurde sie einmal gestartet, ist eine Lohn-Preis-Spirale nur schwer wieder zu stoppen. Die Zentralbank muss eingreifen und die Zinsen nicht nur ein bisschen, sondern massiv erhöhen. Dadurch wird es lukrativer zu sparen, statt Geld auszugeben. Das lässt wiederum die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen sinken, was die Preise drückt. Drastische Zinserhöhungen würden jedoch zu fatalen wirtschaftlichen Kollateralschäden führen: Eine tiefe Rezession mit enormen wirtschaftlichen und sozialen Folgen wie Unternehmenspleiten und hoher Arbeitslosigkeit wäre unausweichlich.

Wie Erdogan das Ansehen der Notenbank beschädigte

Die Türkei steuert jedoch trotz aller Warnungen von Ökonomen auf genau solch ein Szenario zu. Denn anstatt sich frühzeitig den hohen Teuerungsraten mit moderaten Zinserhöhungen entgegenzustemmen, haben die türkischen Notenbanker die Inflation und auch die Inflationserwartungen immer weiter laufen lassen.

Die türkische Notenbank hat nunmehr ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Daran ist Staatspräsident Erdogan schuld, der das Ansehen dieser Institution wiederholt beschädigt hat, indem er ihre Unabhängigkeit infrage stellte und starken Einfluss auf geldpolitische Entscheidungen nahm.

Türkische Lira auf Rekordtief

Die Märkte sind mittlerweile überzeugt, dass die türkische Notenbank nur eine Marionette Erdogans ist. Als Beweis dienen ihnen nicht zuletzt die wiederholten Wechsel an der Spitze der Zentralbank auf Erdogans Geheiß hin. Dieser massive Vertrauensverlust der internationalen Finanzmärkte spiegelt sich auch im Devisenkurs wider: Die türkische Lira notiert mit 0,0537 Dollar auf einem Rekordtief. Allein seit Jahresbeginn hat sie rund 30 Prozent ihres Werts eingebüßt.

Der schwache Lira-Kurs trägt zusätzlich zu einer Verschärfung der Inflationsproblematik in der Türkei bei: Ökonomen sprechen von einer importierten Inflation. Denn die schwache Lira verteuert den Import etwa von Gütern oder Rohstoffen wie Öl aus dem Ausland. Das lässt wiederum die Verbraucherpreise steigen.

Notenbank plötzlich selbstkritisch?

Um die Lira zu stärken, müsste die türkische Notenbank gemäß ökonomischen Lehrbuch noch einmal was tun? Genau: Die Zinsen deutlich erhöhen. Doch das scheint für die türkischen Währungshüter weiterhin keine Option zu sein.

Immerhin - dass der von ihnen gewählte Weg zur Inflationsbekämpfung bislang nicht von Erfolg gekrönt war, mussten sie in der vergangenen Woche selbst einräumen: "Wir können uns nicht als sehr erfolgreich betrachten", sagte Notenbankchef Sahap Kavcioglu. Wer nun allerdings denkt, dass Erkenntnis auch bei Notenbankern der erste Weg zur Besserung ist, sieht sich getäuscht. Denn Kavcioglu fügte noch hinzu: "So Gott will, werden uns die Entscheidungen, die wir getroffen haben, in kurzer Zeit zum Erfolg führen."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 03. November 2022 um 11:40 Uhr.