Kellner mit einem Tablett mit leeren Gläsern und einer Flasche
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Immer mehr Multijobber Wenn selbst zwei Jobs nicht zum Leben reichen

Stand: 29.05.2023 14:53 Uhr

In Deutschland schaffen es immer mehr Menschen nur mit mehreren Jobs, finanziell über die Runden zu kommen. Die hohe Inflation verschärft die Lage gerade für viele Familien dramatisch.

Von Katrin Wegner, hr

Mehr als 3,5 Millionen Menschen in Deutschland haben mehr als eine Arbeitsstelle. Die Zahl hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Deutschland werde zum Niedriglohnland, klagt der Gewerkschaftssekretär der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Philipp Schumann: "Bei zwölf Euro Mindestlohn verdient man bei einer 42-Stunden-Woche ganztags etwas weniger als 2200 Euro. Das entspricht nur etwa 60 Prozent des Durchschnittseinkommens in Deutschland und reicht damit zum Leben nicht aus." 

Morgens Zeitungen austragen, mittags Kurierfahrten, nachmittags Jobben im Buchladen, abends Kellnern in der Cocktail-Bar: Herrschen auf unserem Arbeitsmarkt bald amerikanische Verhältnisse? Schumann würde das bejahen. Erst wenn die Betroffenen etwa 80 Prozent des Durchschnittseinkommens verdienten, bräuchten sie keine zwei oder mehr Jobs mehr. Dazu aber müsste der Mindestlohn bei 17 bis 18 Euro die Stunde liegen. 

Genug Arbeit, aber zu wenig Geld

Als am 1. Oktober 2022 der Mindestlohn auf zwölf Euro die Stunde erhöht wurde, erhofften sich viele eine Verbesserung ihres Lebensstandards. Die Inflation aber machte diese Hoffnung zunichte. Fast 17 Prozent der Bevölkerung in Deutschland waren laut dem Paritätischem Armutsbericht zuletzt von Armut betroffen, Tendenz steigend: Die rasant kletternden Preise der vergangenen Monate machen immer mehr Arbeitende zu armen Leuten.

Zum Beispiel eine sechsköpfige Familie aus Wetzlar: Mutter Anika muss seit Anfang des vergangenen Jahres mehreren Jobs nachgehen, damit sie über die Runden kommt. Denn die Lebenshaltungskosten - im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 22 Prozent gestiegen - setzten ihr und ihrer Familie zu.

Vor der Inflation reichten das Gehalt ihres Mannes als Industriemechaniker in Vollzeit und Anikas Teilzeitjob aus. Danach aber fehlten der Familie fast 700 Euro im Monat. Seitdem sind sie im Dauerstress: Er arbeitet im Drei-Schicht-System, sechs Tage die Woche; sie arbeitet als Mehrfachbeschäftigte ohne Wochenenden durch. 

"Eine absolute Belastung, total erschöpfend"

Anika ist Schulbegleiterin, Teilhabeassistentin im Kindergarten und Verkäuferin in der Bäckerei. "So viele Jobs gleichzeitig sind eine absolute Belastung, total erschöpfend. Wir sind eigentlich nur noch am Arbeiten und Denken, wie wir unsere Jobs, unsere vier Kinder und sämtliche Termine organisieren können."  

Als Verkäuferin in der Bäckerei bekommt sie zwölf Euro die Stunde. Als Schulbegleiterin verdient sie 15 Euro. Einfacher wäre ihr Leben mit nur einem Job, zum Beispiel als pädagogische Fachkraft. Aber damit dieser zum Leben reicht, müsste er doppelt bezahlt sein.  

Alle Bildungsschichten sind betroffen

Das Phänomen der Mehrfachbeschäftigung auf dem deutschen Arbeitsmarkt beschränkt sich schon lange nicht mehr nur auf Menschen im Niedriglohnsektor. Es zieht sich vom Schulabgänger ohne Abschluss bis hin zum Akademiker. Olaf Karg zum Beispiel hat Sozialrecht studiert. Bis Ende vergangenen Jahres war er noch Vermittler für Baufinanzierung. Durch den Zinsanstieg aber brach sein Geschäft zusammen, und seitdem arbeitet er als Multijobber. Er ist Tonassistent auf Konferenzen, DJ und Rettungsassistent.  

"In den schlimmsten Monaten fehlten mir hohe vierstellige Summen Euro. Mit nur einem Job hätte ich 1000 Euro zu wenig und käme an meine finanziellen Grenzen", erklärt der 53-Jährige seine Situation. Aufträge abzulehnen kann er sich nicht leisten, dann könnten lukrative Folgeaufträge ausbleiben.

Unsicherheit als einzige Konstante

"Wenn ich nach einem Sieben-Stunden-Tag als Tontechniker nach Hause komme und dann noch zu einem Einsatz als Rettungsassistent auf eine Messe gerufen werde, kann es schon mal zu einem 14-, 15-Stunden-Tag kommen", sagt er. Und dann wird die Mehrfachbeschäftigung auch für Karg zur absoluten Belastung.  

Seine Konstante als Multijobber ist die Unsicherheit, seine Hoffnung für die Zukunft finanzielle Sicherheit, weniger Stress und die Möglichkeit einer besseren Zeitplanung. Das sind Wünsche, die sich Olaf Karg mit vielen anderen Multijobbern teilt. Aber mit den steigenden Kosten und niedrigen Löhnen werden sie wohl kaum erfüllt werden können. 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete ARTE am 10. Januar 2023 um 20:15 Uhr.