
Notfallplan bei Lieferstopp Wer als Erstes auf Gas verzichten müsste
Bei einem Stopp russischer Lieferungen könnte das Gas nicht mehr für alle reichen. Wem dreht der Staat dann den Gashahn zu? Das regelt der Notfallplan Gas. Dessen erste Stufe hat die Bundesregierung nun ausgerufen. Was bedeutet das?
Was passiert, wenn Deutschland ohne Gasimporte aus Russland auskommen muss? Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hat die sogenannte Frühwarnstufe des Gas-Notfallplans ausgerufen. "Es gibt aktuell keine Versorgungsengpässe", erklärte Wirtschaftsminister Robert Habeck. "Dennoch müssen wir die Vorsorgemaßnahmen erhöhen, um für den Fall einer Eskalation seitens Russlands gewappnet zu sein."
Noch sei die Bundesrepublik auf russisches Gas angewiesen, hatte er zuletzt betont. Bei einem Embargo drohe ein schwerer Schaden für die Wirtschaft. Dennoch fordern viele Politiker und Wissenschaftler ein Ende der Einfuhren, um dem russischen Präsidenten Wladimir Putin den Geldhahn zuzudrehen. Auch dass Russland selbst seine Exporte gen Westen beendet, ist nicht mehr ausgeschlossen. Zwar versicherte Putin bisher, dass die Lieferungen weitergehen. Doch er wies an, keine Zahlungen in Dollar oder Euro mehr zu akzeptieren, sondern nur noch in Rubel. Das lehnten die G7-Staaten bereits ab, woraufhin Russland seine Drohung erneuerte, kein Gas mehr zu liefern.
Störungen regelt zuerst der Markt
Doch was geschieht im schlimmsten Fall, also wenn das von Deutschland importierte Gas nicht mehr reicht, um den gesamten hiesigen Bedarf zu decken? Wer bekommt dann als Erstes kein Gas mehr?
Das regelt der "Notfallplan Gas für die Bundesrepublik Deutschland", der im September 2019 veröffentlicht wurde. Drei Krisenstufen sind in der Verordnung definiert. In der nun ausgerufenen Frühwarnstufe "liegen konkrete, ernst zu nehmende und zuverlässige Hinweise darauf vor, dass ein Ereignis eintreten kann, welches wahrscheinlich zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage führt". Nun bilde sich ein Krisenstab und die Gasversorger seien verpflichtet, die Lage für die Bundesregierung einzuschätzen.
Der Notfallplan sieht als möglichen nächsten Schritt die zweite Stufe vor, die sogenannte Alarmstufe, in der "eine Störung der Gasversorgung oder eine außergewöhnlich hohe Nachfrage" zwar für solch eine Situation sorgt, der Markt aber noch in der Lage ist, das Problem zu lösen. Der Netzbetreiber regelt die Stabilisierung des Netzes und die Versorgung allein über Angebot und Nachfrage.
Dazu zählen etwa Verträge mit kommerziell vereinbarten Unterbrechungen. Dabei zahlen Unternehmen einen geringeren Betrag an die Betreiber der Gasnetze, die im Gegenzug ihre Lieferungen zur Aufrechterhaltung der Versorgung zeitweise stoppen können. Auch die Nutzung von Flexibilität auf der Beschaffungsseite und der Rückgriff auf Gasspeicher seien Teile der "marktbasierten" Maßnahmen. Der Staat greift in diesen beiden Stufen noch nicht ein.
Abschaltung erst in der Notfallphase
Das ändert sich, wenn diese Marktmechanismen nicht mehr greifen oder ausgeschöpft sind. In der Notfallphase herrscht laut Bundesnetzagentur ein akuter Mangel, auf dem Markt wäre kein Gas für den freien Verkauf verfügbar. Dann ist die Abschaltung nicht mehr freiwillig, sondern erfolgt durch den Staat in einer sogenannten "hoheitlichen Zuteilung". Diese Aufgabe übernimmt die Bundesnetzagentur, die für die Regulierung und die Wettbewerbsaufsicht beim Gas zuständig ist.
Bei einem Stopp der russischen Lieferungen könnte dieser Fall eintreten. Denn Fakt ist: Mehr als die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Gases wird bisher aus Russland importiert. Ein Ende der Einfuhren würde die zur Verfügung stehende Menge entsprechend stark verringern. Auch wenn seit Wochen mit anderen möglichen Lieferanten verhandelt wird und mögliche Alternativen geprüft werden, könnte der Wegfall russischer Gasimporte kurzfristig nur teilweise, aber nicht komplett ersetzt werden. Wann die Notfallstufe bei einem solchen Szenario tatsächlich ausgerufen wird, entscheidet die Bundesregierung je nach Lage.
Geschützte Kunden wie Haushalte und soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser oder auch Gaskraftwerke, die für die Stromerzeugung erforderlich sind, müssten jedoch zunächst kaum etwas befürchten. "Haushaltskunden unterliegen in einer solchen Situation einem besonderen gesetzlichen Schutz und werden vorrangig versorgt", heißt es von der Bundesnetzagentur. Dass Verbraucher im kommenden Winter frieren müssen, gilt daher als unwahrscheinlich.
Industrie zuerst betroffen
Die Abschaltungen dürften vor allem die Industrie betreffen, für die im Worst Case nicht mehr viel Gas übrig bleiben könnte. Zahlreiche Wirtschaftsvertreter warnten deshalb in den vergangenen Tagen und Wochen vor einem Verzicht auf russische Lieferungen. Wärmeerzeugung, Mobilität, aber auch die Stromversorgung für die Unternehmen könne derzeit nicht anders gesichert werden, hieß es etwa vom Bundesverband der deutschen Industrie (BDI).
Die Industrie gehört zu den nicht-geschützten Kunden, die nach europäischen Vorgaben als Erste vom Netz genommen werden müssen. In welcher Reihenfolge Branchen und Unternehmen kein Gas mehr bekommen, ist allerdings unklar und im Notfallplan bislang nicht festgelegt.
Aus diesem Grund laufen derzeit Gespräche zwischen den verschiedenen Parteien. "Die Bundesnetzagentur kann bestätigen, dass Gespräche zur Krisenvorbereitung mit der Industrie und der Energiewirtschaft stattfinden", teilte die Bonner Behörde gegenüber tagesschau.de mit. Anlass sei die Vorbereitung für den Fall unvermeidbarer Abschaltungen der Industrie in einer Gasversorgungskrise.
Befragung der Unternehmen läuft
"Es geht darum, vorbereitet zu sein für einen Fall, von dem wir hoffen, dass er nie eintritt", sagte der Bundesnetzagentur-Präsident Klaus Müller. Eine konkrete Abschalte-Reihenfolge bereite die Behörde allerdings nicht vor, teilte sie heute tagesschau.de mit. "Die in einer Mangellage zu treffenden Entscheidungen sind immer Einzelfall-Entscheidungen, weil die dann geltenden Umstände von so vielen Parametern (u.a. Gasspeicherfüllmengen, Witterungsbedingungen, europäische Bedarfe, erzielte Einsparerfolge, etc.) abhängen, dass sie nicht vorherzusehen sind."
Kriterien bei solchen Überlegungen sind die Möglichkeiten zur Umstellung auf einen alternativen Brennstoff und zur Reduzierung des Verbrauchs sowie die Systemrelevanz der jeweiligen Branche. Auch die notwendige Vorlaufzeit und Fragen in der Gasnetztechnik spielen eine Rolle. Zu all diesen Aspekten werden aktuell Unternehmen befragt. Diese zeigen sich offen: Nach einer Umfrage des SPD-Wirtschaftsforums halten zwei Drittel der 175 befragten Firmen die Festlegung einer Reihenfolge für eine sinnvolle Maßnahme.
Für die kommenden Monate dürfte die Gasversorgung laut Experten dank Speicherständen und mit Blick auf mögliche andere Bezugsquellen auch bei einem Embargo noch gesichert sein. Im nächsten Winter könnte sich das ändern, wie Habeck zuletzt betonte. Auf dieses Szenario will sich die Bundesregierung schon jetzt vorbereiten - und ihren Notfallplan aktualisieren.