Mitarbeiter bei der Arbeit in der Merck-Pharma-Produktion (Archivbild)
Hintergrund

Chemiebranche Tarifrunde vor Krisenszenario

Stand: 17.10.2022 15:01 Uhr

In der Chemiebranche herrscht zu Beginn der Tarifrunde zumindest über eines schon Einigkeit: dass man ohne größeren Tarifkonflikt zu einem Abschluss kommen möchte. Denn Probleme gibt es genug.

Planungssicherheit - so etwas gibt es derzeit nicht in der Industrie. Galoppierende Preise, Lieferkettenprobleme, Corona, Fachkräftemangel: Für die Erkenntnis, dass große Teile der Unternehmerschaft in Deutschland nicht frohlocken, braucht es nicht einmal mehr Konjunkturforscher. Doch auch auf Seiten der Arbeitnehmer herrscht kaum noch Zuversicht. Ein viel größerer Teil der Gesellschaft als noch vor einem Jahr kämpft finanziell ums Überleben. Selbst in der Chemiebranche mit ihrem überdurchschnittlichen Lohnniveau können Familien ihren Lebensstandard nicht mehr halten. Ihnen würde ein die Inflation ausgleichender Lohnanstieg helfen, der jedoch für nicht wenige Arbeitgeber das Aus bedeuten könnte.

Kompromissbereitschaft schon im Vorfeld

Vor diesem Dilemma verhandeln Arbeitgeber und Gewerkschaft in Wiesbaden über einen neuen Tarifvertrag. Und sie tun das so, wie sie es in ruhigeren Zeiten auch meist getan haben: besonnen. Ralf Sikorski, der Verhandlungsführer der Industriegewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie (IG BCE) geht ohne konkrete Forderung in die dritte Verhandlungsrunde.

Beide Seiten haben im Vorfeld die Hoffnung bekräftigt, am Verhandlungstisch ein Ergebnis zu erzielen - und nicht auf der Straße oder gar erst sehr viel später, obwohl beide Tarifparteien betonen, dass es durchaus noch ein weiter Weg sei. "Wir sind noch nie in einem solchen Umfeld in Tarifgespräche gegangen", so Sikorski. "Auch wenn sich die Perspektiven unterscheiden, sind sich alle bewusst darüber, die Dinge verantwortungsbewusst angehen zu müssen."

Im Frühjahr Verhandlungen vertagt

Im April hatte man schon einmal versucht, die Tarife für die nächsten Monate oder Jahre neu aufzustellen. Doch schnell wurde klar, dass so kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine - mit all seinen Auswirkungen auf die Energieversorgung in Deutschland - an einen "normalen" Abschluss nicht zu denken ist. Arbeitgeber und Arbeitnehmer einigten sich auf eine "Brückenlösung" in Form einer Einmalzahlung von 1400 Euro. Unternehmen mit Zahlungsschwierigkeiten hatten die Möglichkeit, diese auf 1000 Euro zu reduzieren. Man vertagte sich auf diesen Oktober.

Doch die Inflation verschlimmerte sich, der Krieg tobt immer unkalkulierbarer, und die Wirtschaft steuert jetzt auf eine Rezession zu. Hans Oberschulte, der für den Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) das Wort am Verhandlungstisch führt, stellt hierzu fest: "Die Ausgangslage für unsere Branche mit Energiekrise, hoher Inflation und einem Produktionsrückgang um zwölf Prozent seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist so schwierig wie selten zuvor. Viel Spielraum für tabellenwirksame, also dauerhafte Tariferhöhungen gibt es nicht." Damit spielt er darauf an, dass es diesmal möglicherweise keinen gewohnten Abschluss geben wird, sondern Unternehmens- und Angestelltenbedürfnisse fantasievoller zusammengebracht werden müssen.

Lage nach wie vor unkalkulierbar

Der Berufsverband der Chemischen Industrie (VCI), der sich während der Tarifverhandlungen mit Wortmeldungen zurückhält, hat im Vorfeld betont, dass vor allem mittelständische Unternehmen aufgrund der explodierenden Energie- und Rohstoffpreise bereits mit dem Rücken zur Wand stünden: "Die Energiekosten der Branche haben sich innerhalb von zwei Jahren mehr als vervierfacht. Im internationalen Wettbewerb können die Unternehmen die Preise nicht mehr an ihre Kunden weitergeben. Dazu kommt, dass zum Jahresende viele Lieferverträge von Strom und Gas auslaufen und bei Anschluss- und Neuverträgen extrem hohe Energiepreise zu zahlen sind. Teilweise sind auch wichtige Rohstoffe nicht mehr lieferbar. Einzelne Basischemikalien werden knapp. Wertschöpfungsketten drohen zu reißen. Die Folge: Produktion wird gedrosselt oder gar stillgelegt."

Der Einbruch der Konjunktur lässt sich also nicht wegdiskutieren. Die IG BCE geht aber davon aus, dass die Branche noch immer sehr leistungsfähig ist. Man sei in ständigem Austausch mit den Betriebsräten und wisse, dass trotz der schwierigen Lage nicht die gesamte Chemiebranche vor dem Exitus stehe. "Die Gesamtbelastung ist größer geworden, das gebe ich zu", sagt Sikorski, "aber man muss doch Verantwortung für seine Leute übernehmen".

Großkonzern kündigt Sparplan an

Inmitten des schwierigen Verhandlungsumfeldes kündigte der weltgrößte Chemiekonzern, die BASF, vergangene Woche für 2023 und 2024 ein Sparprogramm von jährlich 500 Millionen Euro an. Der Fokus liege auf Europa und vor allem auf Deutschland. Die Hälfte der Einsparungen solle den Standort Ludwigshafen betreffen. Stellenstreichungen schließe man nicht aus.

Ob beabsichtig oder nicht - eine solche Ankündigung vier Tage vor Beginn der Tarifverhandlungen spricht eine deutliche Sprache: Selbst der "Megaplayer" muss sparen - wie sollten da hohe Gehaltsforderungen möglich sein? Fragen von tagesschau.de, die Beweggründe des Konzerns betreffend, blieben von Seiten der BASF allerdings mit Verweis auf "die laufenden Tarifverhandlungen" unbeantwortet. Einzig die eigenen Gewinnaussichten kommentierte die Pressestelle: "Das EBIT (der Gewinn vor Steuern) vor Sondereinflüssen wird weiterhin zwischen 6,8 Milliarden Euro und 7,2 Milliarden Euro erwartet." Gemessen am Umsatz spricht diese Quote für eine hohe Profitabilität des Unternehmens.

Die Gewerkschaft IG BCE kündigte Protest gegen das Sparprogramm der BASF zum jetzigen Zeitpunkt an. Der Nachrichtenagentur dpa sagte der Vorsitzende Michael Vassiliadis: "Tiefe Einschnitte an den heimischen Standorten anzukündigen, während Politik und Sozialpartner einen milliardenschweren Abwehrschirm aufspannen, ist nicht nur maximal instinkt- und respektlos, sondern wird auch auf unseren entschiedenen Widerstand treffen".

Verhandlung mit ungewöhnlichen Lösungen

Doch was kann bei Tarifverhandlungen in diesem Umfeld für die Arbeiter und Angestellten herauskommen? IG-BCE-Verhandlungsführer Sikorski rechnet nicht mit einem Abschluss, den man nur in Prozenten ausdrücken kann. Die Inflation betreffe Gut- und Schlechtverdiener gleichermaßen, deshalb sei eine rein prozentuale Anhebung der Löhne sozial ungerecht gegenüber denen, die es am nötigsten hätten. "Man muss diesmal über ungewöhnliche Lösungen nachdenken. Die Brückenlösung vom April war eine solche Lösung, doch eine Verlängerung der Brücke allein wird es diesmal nicht sein können. Auch brauchen wir Sonderklauseln, denn manche Betriebe können nicht bei allem mitziehen."

Die Gewerkschaft möchte einen Konflikt gerne vermeiden, schließt ihn aber auch nicht aus. Man sei - ebenso wie die Arbeitgeberseite - an einer schnellen Lösung, nicht aber an einem Arbeitskampf interessiert. Laut Sikorski ist das Ziel, bereits bis zum morgigen Ende dieser ersten Gesprächsrunde ein Ergebnis zu haben: "Die Arbeiter brauchen jetzt Lösungen und wollen nicht auf Marktplätzen rumlaufen."

Gab es vorab schon Gespräche?

Wer genau hinschaut, wird den Verdacht nicht los, dass da zwei Tarifparteien schon vor dem offiziellen Einstieg in die Verhandlungen miteinander gesprochen haben. Beim Arbeitgeberverband BAVC klingt es so: "Viel Spielraum für dauerhafte Tariferhöhungen gibt es nicht. Zugleich stehen uns andere Optionen wie steuer- und beitragsfreie Einmalzahlungen zur Verfügung. Im Mittelpunkt der Verhandlungen steht daher zunächst die Struktur, die ein Abschluss haben könnte." Und die Gewerkschaft drückt es IG BCE so aus: "Wir wollen hinterher sagen können, das war vernünftig. Wir müssen Entlastung schaffen, damit Menschen nicht in die Privatinsolvenz getrieben werden. Das Ziel ist eine Kombination aus prozentualer Erhöhung und steuerfreier Einmalzahlung - der Nettoeffekt dabei brächte ja zusätzlich Entlastung. Der Zeitraum ist diskutabel." Seit gestern wird verhandelt; am morgigen Dienstag könnte ein Ergebnis vorliegen.