Im Labor der TU Darmstadt wird eine Zentrifugen-Filtereinheit mit einer Abwasserprobe aus Dinslaken befüllt.
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Zeitvorsprung bei Erkennung Abwasser als Corona-Frühwarnsystem

Stand: 09.07.2021 09:51 Uhr

Zwischen dem Anstieg von Corona-Neuinfektionen und dem Nachweis per Test vergehen oft Tage. Schneller lässt sich eine SARS-CoV-2-Ausbreitung über das Abwasser nachweisen. Deutschland setzt bisher nur in einzelnen Regionen darauf.

Von Notker Blechner, tagesschau.de

In Vor-Corona-Zeiten lockte Bad Reichenhall vor allem Kurgäste an, die wegen der Solequelle mit dem salzhaltigen Wasser kamen. Nun sind es vor allem Politiker und Wasser-Experten, die in die Salzstadt kommen. Ihr Interesse gilt dem Dashboard, das das Landratsamt Berchtesgadener Land betreibt. Es soll frühzeitig die Ausbreitung des Coronavirus im Abwasser des Landkreises erkennen.

Berchtesgadener Land als Vorreiter

"Das Dashboard haben wir in Zusammenarbeit mit dem Landkreis Berchtesgadener Land günstig und einfach implementiert, ohne die Gesundheitsämter zu belasten", erklärt Jörg Drewes vom Lehrstuhl für Siedlungswasserwirtschaft an der TU München. Er und sein Team haben den Landkreis bei der Entwicklung des Systems unterstützt.

Mit seinem Abwasser-Monitoring im Kampf gegen Corona zählt das Berchtesgadener Land zu den Vorreitern in Deutschland. Mehrere Städte und Kommunen planen ähnliche Systeme. Denn die EU-Kommission verlangt von den Mitgliedsstaaten, "schnellstmöglich effektive Abwasser-Überwachungssysteme einzurichten" - bis zum 1. Oktober.

Den Bosch: Eine Kläranlagenmitarbeiterin entnimmt eine Abwasserprobe zur Analyse auf Coronaviren

In einigen Ländern wird das Abwassermonitoring zur Corona-Erkennung bereits flächendeckend eingesetzt.

"Die Überwachung von Abwasser kann eine kostengünstige, schnelle und verlässliche Quelle für Informationen über die Verbreitung des Virus und seiner Varianten sein", meint EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevicius.

Deutlich schnellere Suche nach Infektionsherden

Tatsächlich ermöglicht die Untersuchung des Abwassers eine schnellere Suche nach Infektionsherden als bei Tests in der Bevölkerung. Bei der Auswertung in Kläranlagen "haben wir eine Vorlaufzeit von sieben bis zehn Tagen vor den offiziellen Fallzahlen", sagt Abwasserexperte Drewes. Wer sich infiziert, müsse dies erst mal merken. Oft fehlen die Symptome oder kommen erst später. Bis der Test erfolge, die Proben analysiert werden und die Meldung ans Gesundheitsamt und schließlich ans RKI gemacht werde, vergehe dann noch mal einige Zeit.

Schneller passiert die Virus-Erkennung im Abwasser. Menschen, die sich infiziert haben, scheiden das Virus aus. Die Abwasserproben werden dann binnen eines Tages analysiert. Zwar wird das Virus durch Bakterien, Hitze und Kälte im Abwasser ziemlich ramponiert. Das genetische Material bleibe aber tagelang erhalten.

Punktuelle Projekte

Neben dem Berchtesgadener Land entnehmen inzwischen auch einige Großstädte wie Berlin, München, Hamburg, Köln, Frankfurt und Leipzig Abwasserproben. Mehrere Bundesländer und das Bundesforschungsministerium finanzieren entsprechende Forschungsprojekte. Allerdings findet bisher kaum Zusammenarbeit mit den Gesundheitsbehörden statt. Das von der EU geforderte flächendeckende Abwassermonitoring lässt noch auf sich warten - auch wegen der ungeklärten Finanzierung.

Weiter sind da schon andere Länder. Die Niederlande zum Beispiel kontrollieren flächendeckend ihr Abwassernetz nach Coronaviren. Auch Österreich, die Schweiz und Frankreich betreiben ein systematisches Abwasser-Monitoring. Auch die großen Wasserkonzerne wie Suez und Veolia engagieren sich und führen Pilotprojekte durch.

Corona-Früherkennung im Abwasser: Susanne Lackner, Professorin für Abwasserwirtschaft der TU Darmstadt

Im Abwasser lassen sich Coronaviren tagelang nachweisen.

Deutschland hinkt hinterher

"Deutschland ist sehr langsam", kritisiert Susanne Lackner, Professorin von der TU Darmstadt. Es fehle ein pragmatisches Vorgehen und Politiker, die bereit sind, "so etwas anzuschieben und zu finanzieren". Man verstecke sich hinter fehlender Standardisierung und laufenden Forschungsprojekten.

Die Forscher der TU Darmstadt haben im März im Rahmen eines EU-Ringversuchs Abwasserproben aus 54 Kläranlagen in 20 europäischen Ländern genommen. "Wir konnten klar zeigen, dass wir im Abwasser rund fünf bis zehn Tage vor dem Anstieg der Inzidenzwerte die SARS-CoV-2 Konzentrationen im Abwasser ansteigen", sagt Expertin Lackner.

Lackner begrüßt die zunehmenden Initiativen aus Wirtschaft und Forschung. "Es gibt mittlerweile viele Kläranlagenbetreiber, die auf Eigeninitiative Analysen beauftragen." Hinzu kämen Firmen aus der Abwasseranalytik, die Tests anbieten. Und auch große internationale Firmen wie Veolia und Suez hätten das Thema aufgegriffen.

Deutsches System nach Japan exportiert

Für die Jenaer Firma Analytik Jena könnte das Covid-Frühwarnsystem gar zum Exportschlager werden. Das Abwasser-Verfahren, bei der Proben umso stärker leuchten, je höher die Corona-Last im Wasser ist, wird bereits in Japan eingesetzt. Der große Vorteil des anonymisierten Massentests im Klärwerk liege darin, dass die Gesamtpopulation und damit auch die Dunkelziffer an asymptomatischen und schwach symptomatischen Fällen erfasst wird, sagt Analytik-Jena-Chef Ulrich Krauss. "Das erfolgt demnach früher als die individuelle Testung samt Kontaktnachverfolgung."

Krauss hofft auf einen klaren politischen Willen und entsprechende Investitionsbereitschaft, damit sich Corona-Früherkennungssysteme im Abwasser in Deutschland durchsetzen. "Das System ist im Verhältnis zum Nutzen weder teuer, noch zu komplex." Das Verfahren und die Technologie dafür stehen zur Verfügung, und der Prozess könnte sich künftig als Bestandteil der kritischen Infrastruktur auch zum Nachweis anderer gesundheitsrelevanter Daten bewähren, beispielsweise bei Grippewellen oder zum Nachweis antibiotikaresistenter Keime.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 22. April 2021 um 16:46 Uhr.