Gewerkschaftsmitglieder halten Plakate mit Forderungen in die Höhe
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Kommende Tarifrunden Wo es die nächsten Streiks geben könnte

Stand: 25.04.2023 16:00 Uhr

Die Einigung im Öffentlichen Dienst könnte Signalwirkung für weitere Verhandlungsrunden haben. In welchen Branchen stehen in den kommenden Monaten noch Tarifgespräche an - mit möglichen Warnstreiks?

Von Antonia Mannweiler, ARD-Finanzredaktion, tagesschau.de

Es waren zähe Verhandlungen und Streiks, die am Ende zur Einigung zwischen Bund und Kommunen mit der Gewerkschaft ver.di im Tarifstreit des Öffentlichen Dienstes führten. Der am Wochenende bekanntgewordene Kompromiss sieht für die rund 2,4 Millionen Beschäftigten im Schnitt eine Lohnerhöhung von 11,5 Prozent vor. Die Arbeitgeber lassen sich dies rund 17 Milliarden Euro kosten. Damit sei es der teuerste Tarifabschluss aller Zeiten, sagte dazu etwa der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg.

In den kommenden Monaten stehen noch einige weitere Tarifrunden - womit sich auch neue Arbeitskämpfe abzeichnen. Wie wird sich der Abschluss vom Wochenende auf die Verhandlungen auswirken, die in diesem Jahr noch bevorstehen?

Signalwirkung für andere Branchen

Der Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst habe auch für andere Branchen Signalwirkung, sagte Hagen Lesch, Tarifexperte am Institut der deutschen Wirtschaft (IW), tagesschau.de. Auch wenn ver.di nicht überall so durchsetzungsstark sei wie im Öffentlichen Dienst, habe die Gewerkschaft die "Messlatte sehr hoch gelegt". Andere Tarifpartner dürften sich nun die Frage stellen, ob dort nicht ebenfalls 11 bis 14 Prozent Gehaltssteigerungen möglich seien, so der Fachmann. Das spreche nicht dafür, dass andere Tarifverhandlungen ruhig verlaufen dürften. Ver.di habe sich an die Spitze der Tarifforderungen gesetzt.

Die nächste größere Tarifrunde steht dem Handel mit seinen fünf Millionen Beschäftigen bevor. Die Gewerkschaft ver.di verhandelt dabei regional. In Hessen hat die Tarifkommission bereits ihre ersten Forderungen bekanntgegeben. Verlangt wird die Erhöhung des Stundenlohns um 2,50 Euro im Einzel- und Versandhandel. Für die Beschäftigten im Groß- und Außenhandel will ver.di 13 Prozent mehr Gehalt - mindestens aber 400 Euro im Monat. Die erste Verhandlungsrunde startet diese Woche. Für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen fordert die Gewerkschaft unter dem Motto "Mehr Kohle heißt die Parole" ebenfalls eine Stundenlohnerhöhung von 2,50 Euro wie auch einen Stundenlohn von mindestens 13,50 Euro. Azubis sollen 250 Euro mehr im Monat erhalten.

Neue "Warnstreikwelle" bei der Bahn?

Pendler mussten sich dieses Jahr schon häufiger auf Zugausfälle einstellen - und müssen es wohl auch in den kommenden Wochen. Schon seit Ende Februar laufen die Tarifverhandlungen zwischen der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG und 50 Bahnunternehmen. Es geht um Lohnforderungen von insgesamt 230.000 Beschäftigte - 180.000 davon sind bei der Deutschen Bahn angestellt. Heute hat in Fulda die nächste Verhandlungsrunde begonnen. Die EVG fordert mindestens 650 Euro mehr im Monat oder zwölf Prozent bei den oberen Einkommen sowie eine Laufzeit von zwölf Monaten. Sollten die Verhandlungen nicht vorankommen, drohen weitere Ausstände. EVG-Tarifvorstand Kristian Loroch drohte gar mit einer "Warnstreikwelle".

Gewerkschaft EVG lehnt Tarifvorschlag der Deutschen Bahn ab

Oliver Feldforth, HR, tagesschau, 25.04.2023 20:17 Uhr

Ein erstes Angebot hatte die Gewerkschaft bereits abgelehnt. Der Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst ist aus Sicht der EVG kein Maßstab für die eigenen Verhandlungen. Bei der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft stehen die Zeichen weiter auf Konfrontation: "Wie so oft glaubt die Deutsche Bahn, dass sie selbstherrlich die Spielregeln bestimmen kann." Es werde "ein hartes Stück Arbeit", die Maßstäbe in der neuen Verhandlungsrunde "wieder zurechtzurücken“, hieß es von Loroch zum Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst. Einen kurzfristigen Inflationsausgleich lehnt die EVG ab, da dieser am Ende zu einem realen Lohn-Minus führe.

Von "Arbeitgebermarkt" zu "Arbeitnehmermarkt"?

Obwohl Gewerkschaften wie die EVG sich nicht am Abschluss im Öffentlichen Dienst orientieren wollen, könnte er dennoch auf andere Branchen ausstrahlen. Der Abschluss im öffentlichen Dienst habe eine wichtige Signalwirkung für andere Sektoren, betont auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), gegenüber tagesschau.de. Das werde den Druck auch auf andere Abschlüsse erhöhen.

Die Tarifeinigung selbst bezeichnet er aber als Notlösung. Berücksichtige man die Inflation im Zeitraum von 2021 bis Ende 2024, dann rede man von knapp 20 Prozent Preissteigerungen, so der Ökonom. Selbst mit der Gehaltserhöhung sinke die Kaufkraft der Beschäftigten um sechs Prozent bis Ende der Laufzeit. Hinzu komme, dass viele Kommunen schon seit Jahren überschuldet seien.

Die Lohnerhöhungen haben aus Sicht des DIW-Präsidenten insgesamt aber zwei Vorteile. Einerseits würden damit stille Reserven gehoben. So könnten sich etwa Teilzeitkräfte bei kräftigen Lohnerhöhungen dazu entschließen, wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten. Zudem zwängen Lohnerhöhungen Unternehmen dazu, mehr in die Produktivität ihrer Beschäftigten zu investieren: zum Beispiel durch effizientere Software, Fortbildungen oder Qualifikationen.

Derzeit erlebe man einen Wechsel von einem "Arbeitgebermarkt" hin zu einem "Arbeitnehmermarkt", womit sich auch die Macht verschiebe, so Fratzscher. Das könne auch heißen, dass es häufiger zu Arbeitskämpfen komme. Dabei müssten die Gewerkschaften jedoch auch darauf achten, was möglich sei - sie seien gut beraten, den Bogen nicht zu überspannen, wenn dies am Ende zu Entlassungen führen oder einer ganzen Branche schaden könne.

Tarifverhandlungen in Süßwarenindustrie

Auch für die Süßwarenindustrie mit ihren rund 60.000 Beschäftigten stehen Tarifverhandlungen an. Mitte Mai startet die zweite Runde der Verhandlungen. Sie sei "die letzte Chance für die Arbeitgeber, Streiks in der Süßwarenindustrie abzuwenden", so die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). "Unsere Mitglieder stehen schon in den Startlöchern, die Bereitschaft für Streiks ist außergewöhnlich hoch", sagte der stellvertretende NGG-Vorsitzende Freddy Adjan.

Die Gewerkschaft will je nach Tarifgruppe eine monatliche Gehaltssteigerungen von 400 bis 500 Euro durchsetzen. Azubis sollen mit 200 Euro im Monat mehr vergütet werden. Interessant sei, so der IW-Experte Hagen Lesch, dass erstmals bundesweit für die Süßwarenindustrie verhandelt werde.

Flugausfälle im Sommer?

Auch mit Blick auf die Urlaubssaison rücken mögliche Streiks wieder näher. Bei der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) läuft Ende Juni die zehnmonatige Friedenspflicht aus, die im vergangenen Herbst vereinbart wurde. Dann darf wieder gestreikt werden. Im September 2022 hatte die Gewerkschaft zuletzt zum Streik aufgerufen, dabei sind rund 800 Flüge ausgefallen. In den zuletzt geführten Gesprächen zwischen VC und Lufthansa konnte keine Einigung erzielt werden. Von beiden Seiten hieß es Anfang des Monats, dass man sich wieder in ganz normalen Tarifverhandlungen befinde. Die Forderungen selbst wurden nicht öffentlich geäußert. Seit einigen Wochen verhandelt ver.di auch mit der Lufthansa-Tochter Eurowings über die Arbeitskonditionen des Kabinenpersonals.

Bei den Forderungen der Gewerkschaften geht es dabei nicht immer nur um höhere Gehälter. Zuletzt sorgte die IG Metall mit ihrer Forderung nach einer Vier-Tage-Woche für Aufsehen. Knut Giesler, IG-Metall-Verhandlungsführer für die nordwestdeutsche Stahlindustrie, hatte angekündigt, die verkürzte Arbeitswoche bei vollem Lohnausgleich in der nächsten Tarifrunde zu fordern. Allerdings hat der aktuell geltende Tarifabschluss für die Metall- und Elektroindustrie noch eine Laufzeit bis Ende September 2024.

In diesem Jahr stehen noch die Verhandlungen der Kfz-Branche an. In Baden-Württemberg haben sich die Beschäftigten der tarifgebundenen Autohäuser und Kfz-Werkstätten zuletzt auf eine Inflationsausgleichsprämie und Lohnsteigerungen im einstelligen Bereich geeinigt. Der Abschluss dürfte auch für die anderen Tarifgebiete richtungsweisend sein. In Deutschland sind knapp 435.000 Menschen in der Branche beschäftigt, 91.000 würden von dem Tarifvertrag profitieren.