Interview

Was wäre Deutschland ohne die EU? "Unser Wohlstand wäre geringer"

Stand: 21.03.2007 17:57 Uhr

Murren über bizarre EU-Vorschriften, Beschwerden über das Bürokratiemonster Brüssel – das gehört zum alltäglichen Wehklagen aus der Wirtschaft. Aber was wären Deutschland und seine Wirtschaft ohne die EU? Der gemeinsame Markt ist schon in den Römischen Verträgen verankert, die vor 50 Jahren gechlossen wurden. Was die europäische Einigung der deutschen Wirtschaft gebracht hat, erklärt Europafachmann Friedrich Heinemann.

tagesschau.de: Können Sie skizzieren, wie die deutsche Volkswirtschaft ohne EU und Binnenmarkt vermutlich dastünde?

Friedrich Heinemann: Der Wohlstand wäre geringer. Schließlich feierte Deutschland seine wirtschaftlichen Erfolge auf diesem europäischen Binnenmarkt. Bis heute sind das die Märkte, die den größten Anteil der deutschen Exporte aufnehmen. Jetzt im Zuge der Globalisierung beginnen sich die Gewichte ein bisschen zu verschieben. Aber im Rückblick war dieser Markt vor der Tür sicher der erste große Expansionsschritt für viele deutsche Unternehmen. Das hat dem Industriestandort Deutschland enorm geholfen. Für spezialisierte Maschinenbaufirmen etwa, Unternehmen aus der Elektrotechnik oder dem Fahrzeugbau, wäre der deutsche Markt allein viel zu klein. Die hätten nicht diese Erfolgsgeschichten hinlegen können, wie wir sie erlebt haben.

Außerdem hat uns die europäische Einigung auch geholfen, innere Reformen durchzusetzen, die sonst wohl an politischen Widerständen gescheitert wären. Zum Beispiel konnten Monopole etwa im Bereich der Telekommunikation, der Postdienstleistungen und derzeit im Bereich Energie aufgebrochen werden - weil Brüssel uns das verordnet hat.

tagesschau.de: Welche Nachteile hätten deutsche Unternehmen ohne den europäischen gemeinsamen Markt?

Heinemann: Wir hätten womöglich noch Zollgrenzen in Europa. Das würde ganz klar den Handel reduzieren. Kontrollen und langen Aufenthalte an den Grenzen – Logistikunternehmen kostet das bares Geld. Ohne Binnenmarkt hätten wir vermutlich auch keine so weitgehende Standardisierung. Die braucht man aber, damit ein gemeinsamer Markt entstehen kann. Etwa wie der Chip im PC eingesetzt wird. Oder wie ein gewisses Finanzprodukt, etwa ein Investmentfonds, definiert ist. Anbieter müssten ohne einheitliche Standards für einzelne nationale Märkte produzieren, könnten nicht so große Stückzahlen realisieren, die Kosten wäre höher und die Produkte wären teurer. Wir würden alle viel mehr Geld für die Produkte zahlen, die wir uns leisten.

Krude Vorschriften und Regelungswut?

tagesschau.de: Die Wirtschaft stöhnt häufig über krude Vorschriften, Brüsseler Regelungswut und Bürokratie. Zu Recht?

Heinemann: Zum Teil sicher zu Recht. Unbestritten gibt es bürokratische Exzesse, das würde sicher auch in der EU-Kommission niemand bestreiten. Auf der anderen Seite sind viele Vorschriften über europaweite Standards auch nötig, um einen Binnenmarkt überhaupt erst zu schaffen.

tagesschau.de: Hätten manche Unternehmen denn einen Grund, die EU komplett zu verfluchen?

Heinemann: Unternehmen passen sich immer an. Aber Monopolisten wie die Deutsche Bundespost hätten sicher ein ruhigeres Leben gehabt, hätte es die EU mit ihrem Liberalisierungsdruck nie gegeben. Ein Monopolist fühlt sich sehr wohl in seinem Monopol. Auch seinen Arbeitnehmern geht es gut, dem Management geht es gut: Kein Stress, keine Konkurrenz, sichere Umsätze. Gesamtwirtschaftlich gesehen ist das natürlich nicht vorteilhaft. Die früheren Monopolisten haben verloren. Aber wer am Ende von der Liberalisierung und dem Wettbewerb profitiert, sind die Verbraucher - und am Ende auch die Arbeitnehmer, die in einer dynamischen Branche einen Job finden. Natürlich hat die Deutsche Bundespost zahlreiche Stellen abgebaut. Aber im Telekommunikationsbereich sind insgesamt sehr viele Jobs entstanden, auch im neuen Bereich Mobilfunk.

"Agrarsubventionen schädlich"

tagesschau.de: Schaden zuweilen absurde EU-Subventionen nicht der Volkswirtschaft?

Heinemann: Definitiv! Es gibt bis heute Fehlentwicklungen. Wenn man schaut, wofür die EU eigentlich ihr Geld ausgibt, dann fließt gut ein Drittel in die Subventionierung der europäischen Landwirtschaft. Und das ist ökonomisch schädlich, denn es muss am Ende mit Steuern finanziert werden. Die Agrarsubventionen führen dazu, dass eine Branche in einer Größe erhalten wird, wie sie am Markt an und für sich keine Chance hätte. Aus ökonomischer Sicht müssten Subventionen unterbunden werden, aber die EU ist einer der größten Subventionszahler überhaupt.

tagesschau.de: Wie ökonomisch sinnvoll ist denn die Brüsseler Förderung für wirtschaftlich schwache Regionen aus den Strukturfonds?

Heinemann: Es gibt eine Kontroverse in der Wissenschaft über den Nutzen der Regionalpolitik. Da werden Anreize gesetzt: Wenn sich etwa eine Region eine neue Straße baut, bekommt sie einen Zuschuss von der EU. Brüssel gewinnt über die Vergabe dieser Mittel sehr viel Mitsprache dabei, wie ein Land sein Geld ausgibt. Die Vorstellung aber, dass Brüssel so genau weiß, was für die Region gut ist, ist problematisch. Vielleicht wäre einem Land ja besser bedient, wenn es statt Straßen zu bauen zum Beispiel das Steuerniveau senkt. Dafür gebe es dann aber keinen Zuschuss aus Brüssel.

"Statt EU-Transfers weniger Beiträge"

tagesschau.de: Wie bewerten Sie das für Deutschland?

Heinemann: Man muss sich fragen, warum Deutschland überhaupt regionalpolitische Mittel bekommt. Im Moment bekommen alle 27 Mitgliedsstaaten nach dem Gießkannenprinzip etwas aus den Strukturfonds. Das ist nicht sehr zielgenau. Im Grunde würde Deutschland ohne EU-Regionaltransfers besser fahren, wenn wir dafür weniger Beiträge nach Brüssel überweisen müssten. Dann könnten Bund und Länder das eingesparte Geld ausgeben, und die wissen besser als Brüssel, was für Wachstum und Beschäftigung hilfreich ist.

Ausgleich zwischen den Arbeitsmärkten

tagesschau.de: Jeder EU-Bürger hat prinzipiell die Freiheit, überall in der EU zu arbeiten. Bringt das ökonomische Vorteile?

Heinemann: Ja, denn dadurch können Ungleichgewichte an den Arbeitsmärkten ausgeglichen werden. Und das geschieht auch massiv. Osteuropäer mildern in vielen Ländern den Mangel an Arbeitskräften ab. Und auch die Deutschen wandern auf andere Arbeitsmärkte. Bayern arbeiten in Österreich, wo der Arbeitsmarkt boomt. Im deutsch-niederländischen Grenzgebiet pendeln viele zum Arbeiten über die Grenze. Der dänische Arbeitsmarkt ist völlig leergefegt, da herrscht Vollbeschäftigung. Dort finden viele Norddeutsche einen Job.

Zur Person

Dr. Friedrich Heinemann leitet am Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) den Forschungsbereich "Unternehmens-besteuerung und öffentliche Finanzwirtschaft". Zum Thema Europa hat er zahlreiche Studien veröffentlicht. Er hat Volkswirtschaftslehre und Geschichte an der Universität Münster, der London School of Economics und der Universität Mannheim studiert. Heinemann ist außerdem Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Europäische Integration in Berlin sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Direktoriums des Berliner Instituts für Europäische Politik (IEP).

tagesschau.de: Welche Auswirkungen hat der europäische Binnenmarkt auf die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland?

Heinemann: Ganz eindeutig einen positiven Effekt. Schließlich hängt in der Wertschöpfungskette eine Menge an den deutschen Exporterfolgen. Auch der lokale Handwerksmeister profitiert davon, auch wenn er nicht selber exportiert. Er baut aber zum Beispiel das Haus für den Angestellten des exportorientierten Unternehmens. Ganz eindeutig hat der Binnenmarkt den Wohlstand in Deutschland erst ermöglicht.

Das Interview führte Claudia Witte, tagesschau.de