Brennende Barrikaden im Leipziger Stadtteil Connewitz am 7.11.2020

Fall "Lina E." Wie gewaltbereit ist die linke Szene?

Stand: 23.11.2020 20:02 Uhr

Der Verfassungsschutz beobachtet in der linksradikalen Szene eine wachsende Gewaltbereitschaft. Der Fall der Studentin Lina E. wird als Beleg angeführt.

Lina wer? Die Verwunderung in der linken Szene in Leipzig war groß, als der Generalbundesanwalt Anfang November die 25-jährige Studentin Lina E. festnehmen ließ. Die ursprünglich aus Kassel stammende Frau war in den linksradikalen Kreisen der Stadt ziemlich unbekannt, sie galt eher als Randfigur.

Die Ermittler werfen ihr vor, die Rädelsführerin einer "linksextremistischen kriminellen Vereinigung" zu sein. Sie soll an mehreren Angriffen auf Angehörige der rechten Szene beteiligt gewesen sein. Etwa, als im Oktober 2019 die Gäste und der Wirt einer Gaststätte im thüringischen Eisenach mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Faustschlägen attackiert wurden. Die Gaststätte galt den Tätern als rechter Treffpunkt.

"Freiheit für Lina"

Mittlerweile solidarisiert sich die radikale Linke mit der Festgenommenen. Unter dem Slogan "Freiheit für Lina" werden Spenden für die Studentin gesammelt. "Wir sprechen uns gegen die Kriminalisierung antifaschistischer Arbeit aus und wollen nicht schweigend mit ansehen, wie Polizei und Presse ein reißerisches Konstrukt an Vorwürfen gegen eine junge Antifaschistin aufbauen", heißt auf einer Webseite. Und immer wieder: "Wir sind alle 129a!"

Ein Verweis auf den Paragraphen 129a des Strafgesetzbuches, der die Bildung, Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bestraft. Nach Erkenntnissen der Ermittler des sächsischen Landeskriminalamtes (LKA) soll Lina E. einer kleinen, gewaltbereiten Zelle von rund zehn Linksextremisten angehören, die abgeschottet und äußerst konspirativ vorgegangen sein sollen: mit Perücke, ständig wechselnden Mobiltelefonen und SIM-Karten sowie geklauten Kennzeichen am Auto.

Angriffe vorbereitet?

Die Studentin soll Rechtsextremisten ausgespäht und Angriffe vorbereitet haben. Eine solche Attacke soll im Juni 2020 in Leipzig verhindert worden sein, weil die Polizei einschritt und das potenzielle Opfer warnte. Für den Verfassungsschutz ist der Fall Lina E. ein Beleg dafür, dass sich die linksextreme Szene immer stärker radikalisiert und gewaltbereiter wird.

Bereits vor Wochen warnte der Inlandsnachrichtendienst vor einer "Radikalisierungsspirale" und einer "neuen Eskalationsstufe". Ein Teil der Szene spalte sich zunehmend ab und erachte nicht nur Gewalt gegen Sachen, sondern auch Gewalt gegen Menschen als legitimes Mittel des politischen Kampfes. "Linksextremistische Gewalt wird zunehmend aggressiver, gezielter, enthemmter und personenorientierter", so die Analyse des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV).

Die Zielauswahl der Angriffe verschiebe sich "von der institutionellen auf eine persönliche Eben". Die Opfer würden teilweise gezielt in ihrem persönlichen Rückzugsraum angegriffen, scheinbar "rote Linien" würden immer öfter überschritten. "Schwere Körperverletzungen der Opfer bis hin zum möglichen Tod werden billigend in Kauf genommen", so der Verfassungsschutz.

Bekennerschreiben einer "Kiezmiliz"

Im November 2019 etwa griffen zwei vermummte Personen die Mitarbeiterin einer Immobilienfirma in ihrer Wohnung in Leipzig an. Im Bekennerschreiben einer "Kiezmiliz", das kurz darauf auf der Webseite Indymedia auftauchte, hieß es, man habe sich entschieden, "die Verantwortliche für den Bau eines problematischen Projekts im Leipziger Süden da zu treffen wo es ihr auch wirklich weh tut: in ihrem Gesicht".

Wenige Wochen vorher hatten Unbekannte bereits Brandanschläge auf mehrere Baukräne in Leipzig verübt. Es entstand ein Millionenschaden. Im Mai dieses Jahres wurden drei Männer auf dem Weg zu einer Corona-Demonstration in Stuttgart von mehreren vermummten Tätern mit Faustschlägen und Tritten angegriffen. Die Angreifer traten einem am Boden liegenden Mann, der später im Internet als "Faschist" bezeichnet wurde, mehrfach gegen den Kopf und fügten ihm lebensgefährliche Verletzungen zu.

Für Rechtsextremisten gehalten?

Der Betroffene musste stationär im Krankenhaus behandelt werden und lag einige Zeit im Koma. Ebenfalls im Mai attackierten schwarzvermummte Personen das Kamerateam der ZDF-"Heute Show" am Rande einer Kundgebung gegen die Corona-Beschränkungen in Berlin-Mitte. Die Hintergründe der Attacke sind weiter unklar, es besteht jedoch der Verdacht, dass es sich um eine Verwechslung gehandelt haben könnte.

Möglicherweise hatten die Angreifer die Journalisten fälschlicherweise für Rechtsextremisten gehalten. Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sechs namentlich bekannte Beschuldigte - darunter auch ein Geschwisterpaar aus Baden-Württemberg, das Verbindungen in die linksextreme Szene haben soll.

Auch gegen Polizisten, traditionelle Feindbilder der radikalen Linken, gab es zuletzt brutale Angriffe. Anfang August beispielsweise, als die Polizei im Berliner Bezirk Neukölln die linke Szenekneipe "Syndikat" räumte, nachdem der Mietvertrag gekündigt worden war, skandierte der "Schwarze Block": "Gebt dem Bullen, was er brauch: 9mm in den Bauch!"

Später soll einem Beamten gezielt das Visier seines Helmes hochgeklappt und eine Flasche ins Gesicht geschleudert worden sein. Einer Notoperation ist es offenbar zu verdanken, dass der Polizist sein Augenlicht nicht verlor. Bis heute wurde kein Tatverdächtiger ermittelt, es wird nach Zeugen gesucht und eine Belohnung von 4000 Euro wurde ausgeschrieben.

Überalterte Szene?

Die gestiegene Gewaltbereitschaft der Linksradikalen sei auch bedingt durch Frust, sagen Verfassungsschützer. Es sei vielfach "der Mut der Verzweiflung" erkennbar. Denn die Szene befinde sich in einer schwierigen Situation, sie sei überaltert und geschwächt. Die Gewinnung von Nachwuchs falle zunehmend schwerer. Der Kampf um "die letzten Freiräume" sei in vollem Gange, zum Beispiel um die letzten noch besetzten Häuser. Man fühle sich zunehmend unter Druck.

In Berlin gebe es zwar nur noch halb so viele Linksextremisten wie 2001, die Zahl der Gewalttaten aber sei gestiegen, sagte jüngst Innenstaatssekretär Torsten Akmann (SPD). Die Hemmschwelle sinke.

"Sehr viel kritische Stimmen"

"Es gab schon immer Einzelpersonen oder kleine Gruppen, die nicht vor Gewalt gegen Menschen zurückschrecken", meint die Linke-Politikerin Juliane Nagel aus Leipzig. Aber es sei "Unsinn", dass die linke Szene dies unwidersprochen lasse oder gar befürworte. Nach dem Angriff auf die Immobilienmaklerin im vergangenen Jahr habe es "sehr viele kritische Stimmen" gegeben. Die Landtagsabgeordnete warnt zudem vor einer pauschalen Kriminalisierung. "Ich sehe mit Sorge, dass Polizei und Verfassungsschutz krampfhaft versuchen, Verfahren gegen angebliche linksextremistische kriminelle Vereinigungen zu starten", so Nagel.

Diese Verfahren seien in der Vergangenheit oft geplatzt. Lina E. sitzt derweil noch in Untersuchungshaft. Ihr Anwalt wollte sich auf Anfrage nicht äußern. Die Bundesanwaltschaft prüft, ob die Studentin noch an weiteren Angriffen beteiligt war. Etwa auf eine Gruppe von Neonazis, die im Februar bei der Rückkehr von einer NPD-Demonstration am Bahnhof im sächsischen Wurzen attackiert wurden.