Interview

Beschlüsse des EU-Gipfels "Der Reformdruck wird zwangsläufig nachlassen"

Stand: 29.06.2012 18:31 Uhr

Die Bedingungen für den Geldfluss an Krisenstaaten werden nach den Gipfelbeschlüssen manipulierbarer, sagt ARD-Korrespondent Rolf-Dieter Krause im Interview mit tagesschau.de. Kanzlerin Merkels Einlenken habe ihn überrascht. Für die Krisenländer könne das aber zum Pyrrhussieg werden.

tagesschau.de: Wer hat beim EU-Gipfel gewonnen und wer verloren?

Rolf-Dieter Krause: Ich weiß nicht, ob das auf einen so einfachen Nenner zu bringen ist. Sicherlich haben die Staaten gewonnen,  die Probleme haben - weil sie einen leichteren Zugang zum Geld der Rettungsschirme haben werden. Sicherlich haben die Kunden der strauchelnden Banken gewonnen, weil diese auch schneller Geld aus dem Rettungsschirm bekommen werden: Wenn das Geld zur Bankenrettung nicht über die Staaten läuft, ist deren Hemmung mit Sicherheit geringer, es zu beantragen.

Zur Person

Rolf-Dieter Krause leitet seit 2001 das ARD-Fernsehstudio in Brüssel. Bereits 1992 veröffentlichte der gebürtige Lüneburger sein Buch "Europa auf der Kippe: Vierzehn Argumente gegen den Vertrag von Maastricht". 2012 wurde er vom Medium Magazin als "Journalist des Jahres" ausgezeichnet. Er sei im Schicksalsjahr der Eurokrise zum Erklärer Europas geworden.

tagesschau.de: Hat Angela Merkel sich über den Tisch ziehen lassen?

Krause: Naja. Sie hat rote Linien verschoben, die sie vorher gezogen hatte.

tagesschau.de: Macht sie das zu einer Verliererin des Gipfels?

Krause: Ich weiß nicht, ob ich das als Reporter beurteilen soll. Ich war jedenfalls überrascht, dass sie sich auf diese Entscheidung eingelassen hat. Das habe ich nicht erwartet. Die Zeichen - auch die inoffziellen - aus der deutschen Regierung waren vorher anders. Und zwar bis in die vergangene Nacht hinein.

tagesschau.de: Sind die Entscheidungen richtig?

Krause: Da bin ich nicht sicher. Wir stellen einen Zustand wieder her, dass Staaten sich leichter verschulden können, notfalls auf Kosten ihrer Nachbarn. Das führt zwangsläufig dazu, dass der Reformdruck nachlässt. Die Reformen sind aber notwendig, wenn die Staaten irgendwie auf eigenen Füßen stehen wollen. Insofern könnten das auf dem Gipfel Pyrrhussiege gewesen sein.

Ob das Ganze ein Gewinn für Europa und den Euro wird, wird sich zeigen müssen. Es kann auch gut sein, dass der erleichterte Zugang zum Rettungsschirm dazu führt, dass seine Mittel schneller ausgeschöpft sind. Dann wird der Ruf nach mehr Hilfsgeldern laut.

Der Kern der Probleme ist nach wie vor nicht bearbeitet: die sehr unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit der Länder. Die hat viel mit zum Teil maßlosen Lohnerhöhungen im vergangenen Jahrzehnt zu tun. Und an diesen Unterschieden ist kaum gearbeitet worden.

"Da ist noch ganz viel offen"

tagesschau.de: Wie konkret sind die Beschlüsse? Wird das alles so kommen - oder wird es in den kommenden Wochen oder Monaten schon wieder Änderungen geben?

Krause: Das sind Grundsatzbeschlüsse. Zum Teil fehlen wichtige technische Details. Nehmen wir mal die beschlossene Bankenaufsicht: Wenn man weiß, dass sich die Staats- und Regierungschefs heute Nacht schon die Köpfe darüber heiß geredet haben, wo ein paar Kammern eines Patentgerichts künftig angesiedelt sein sollen, dann kann man sich vorstellen, dass der eigentliche Kampf über die Bankenaufsicht jetzt erst richtig beginnt: Wo wird sie ihren Platz haben? Welche Banken wird sie erfassen? Wer wird an ihrer Spitze stehen? Da ist noch ganz viel offen.

Denn es spielt eine Rolle, wer wo welchen Job macht. Wir erleben doch in Europa andauernd, dass sich die Deutschen sehr zurückhalten, wenn es darum geht, Positionen mit Menschen zu besetzen. An wichtigen Stellen ist Deutschland oft nicht vertreten – und damit auch seine Vorstellungen. Viele wichtige Posten sind weiterhin mit Franzosen - wie IWF-Chefin Christine Lagarde - und Italienern - wie EZB-Chef Mario Draghi - besetzt.

tagesschau.de: Die Länderberichte sollen künftig der Maßstab für die Reformpolitik der Staaten sein sollen. Was ist davon zu halten?

Krause: Die Berichte werden zwar von der Kommission vorgelegt - aber dann im Ministerrat verhandelt. Da wird es dann ein Feilschen geben, das sich gewaschen hat, dass Auflagen für die Politik möglichst schwach ausfallen sollen.

Die Möglichkeit sehr groß, dass die Geldflüsse beispielsweise sehr konkret sein werden - die von Frau Merkel so betonten Auflagen und Bedingungen aber dasselbe Schicksal erleiden, wie Auflagen das in Europa sehr häufig tun: dass sie bis zur Unkenntlichkeit uminterpretiert werden, an den Rand geschoben  - oder schlichtweg nicht beachtet werden.

Martin Bohne, M. Bohne, MDR Brüssel, 29.06.2012 17:22 Uhr

"Die Bedingungen werden leichter manipulierbar sein"

tagesschau.de: Geplant ist auch, dass die Rettungsschirme leichter angezapft werden können. Was ist da vorgesehen?

Krause: Erstens wird es keine besonderen Auflagen für Krisenstaaten mehr geben. Es reicht, wenn sie ihre normalen Verpflichtungen erfüllen. Der IWF, auf deren Einbeziehung Deutschland immer besonderen Wert gelegt hatte, ist nicht mehr unbedingt dabei - insbesondere, wenn es um den Aufkauf von Staatsanleihen durch den ESM gehen wird.  Der IWF ist gelegentlich in seinen Anforderungen sehr rigide. Und die Direkthilfe an Banken haben wir schon erwähnt. Zwar ist hier immer noch von Bedingungen und Voraussetzungen die Rede, aber die werden sehr viel leichter zu manipulieren sein.

tagesschau.de: Wird das passieren?

Krause: Die bisherigen Erfahrungen in Europa sprechen dafür.

tagesschau.de: Können Sie sich vorstellen, dass das Kalkül der Deutschen war, grundsätzlich erst einmal Ja zu sagen – und das nachher in Detailverhandlungen wieder einzufangen?

Krause: Das glaube ich nicht. Den Kleinkrieg können die anderen besser.

tagesschau.de: Und was bedeuten die Gipfelbeschlüsse für die deutschen Steuerzahler?

Krause: Direkt noch nicht sehr viel. Das Kapital der Europäischen Investitionsbank wird um zehn Milliarden Euro aufgestockt, daran trägt Deutschland seinen Anteil. Der deutsche Steuerzahler ist ansonsten vor allem an Risiken beteiligt. Der Rettungsschirm gibt den notleidenden Staaten keine Geschenke, sondern Kredite, die zurückgezahlt werden müssen. Geschenke werden das erst, wenn etwas schiefgeht. Aber die Frage ist natürlich: Kann das passieren? Und zweitens bauen sich natürlich Risikopotenziale auf, die fast erzwingen, dass man noch mal weiteres Geld bereitstellen muss.

tagesschau.de: Wie geht es jetzt weiter - wo stehen wir in einem Jahr?

Krause: Das ist eine Prognose, die man nicht seriös geben kann. 

Das Interview führte Fabian Grabowsky, tagesschau.de