Interview

Ökonom bewertet Sondergipfel zur Schuldenkrise Schwaches Europa, starkes Griechenland

Stand: 23.06.2015 09:27 Uhr

Für den Ökonomen Lüder Gerken steht fest: Auch auf dem Sondergipfel hat Griechenland das Maximum für sich herausgeholt. Im Interview mit tagesschau.de erklärt er, warum Europa von Anfang an in einer schwachen Verhandlungsposition war.

tagesschau.de: Die Entscheidung über Griechenland ist vertagt. Was kann innerhalb der nächsten 48 Stunden erreicht werden, was in den vergangenen sechs Jahren nicht  geschehen ist?

Lüder Gerken: Ziel kann nur sein, einen Formelkompromiss zu erreichen, der beide Seiten das Gesicht wahren lässt. Man wird alles tun, um Griechenland in der Euro-Zone zu halten. Ob zugesagte Reformen tatsächlich umgesetzt werden, ist dabei nachrangig.

Am grundsätzlichen Problem in Griechenland ändert all das nichts, das nicht in der exorbitanten Staatsverschuldung besteht, sondern im völligen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit großer Teile der griechischen Volkswirtschaft. Das Land ist auf den Weltmärkten nicht konkurrenzfähig, von wenigen Bereichen wie dem Tourismus abgesehen. Griechenland importiert mehr als es exportiert und macht damit immer neue Schulden.

Zur Person

Seit 2005 leitet der Volkswirt und Jurist Lüder Gerken das Centrum für Europäische Politik in Freiburg i. Breisgau. Der Think Tank beschäftigt sich vor allem mit allen staatlichen Maßnahmen, die die Rahmenbedingungen fürs Wirtschaften in Europa darstellen. In der Ordnungspolitik fühlt man sich dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet. Wann immer möglich, sollen danach Entscheidungen auf unterster Ebene fallen.

tagesschau.de: Welches Signal wird mit der Vertagung über den Zustand Europas vermittelt?

Gerken: Wenn es jetzt zu einem Zahlungsausfall kommt, müssen sich zunächst mal die Regierungen in den Ländern verantworten, die Griechenland Geld geliehen haben. Alle Versprechungen, die Rettung Griechenlands werde nichts kosten, sind dann Makulatur. Die Blöße werden sich die betroffenen Finanzminister und Regierungschefs nicht geben wollen.

Dabei ist man Griechenland immer wieder entgegengekommen, hat auch halbherzige Reformen als Gegenleistung für die Auszahlung weiterer Hilfen akzeptiert. Europa hat von sich ein schwaches Bild gezeichnet. Den Begriff "Ordnungspolitik" möchte ich in diesem Zusammenhang nicht mehr in den Mund nehmen. Die Griechen haben die Verhandlungsschwäche der anderen Euro-Staaten und der Gläubiger gnadenlos ausgenutzt.

Am Anfang stand ein Satz ...

tagesschau.de: Worin bestand und besteht diese Verhandlungsschwäche?

Gerken: "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa" – dieser Satz der Bundeskanzlerin hat sich als Fehler erwiesen. Damit war klar: Griechenland wird um jeden Preis in der Euro-Zone gehalten. Jede glaubwürdige Drohung wurde damit hinfällig. So kann man nicht hart verhandeln.

Die Griechen haben das klar erkannt und ihre Chance genutzt. Dafür gebührt ihnen Respekt. Man muss ihnen zubilligen, dass sie das Maximum rausholen.

Wie geht es weiter in der Griechenland-Krise?

- Samstag, 27. Juni: Die Finanzminister der Euro-Gruppe setzen am Morgen ihr Treffen fort, dass am Donnerstag unterbrochen wurde. Möglicherweise könnte an diesem Wochenende das griechische Parlament über eine Vereinbarung abstimmen.
- Montag, 29. Juni: Von Montag an könnte der Bundestag in seiner letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause über die Hilfen abstimmen. Auch andere nationale Parlamente der Eurozone müssen zustimmen.
- Dienstag, 30. Juni: Griechenland muss Raten von insgesamt rund 1,6 Milliarden Euro an den IWF zurückzahlen. Zum selben Stichtag läuft nach aktuellem Stand das derzeitige Hilfsprogramm auf europäischer Seite aus.

tagesschau.de: Höhere Mehrwertsteuer im Bereich Tourismus, eine Sondersteuer für Reiche und Frührenten abschaffen - das ist das, was Athen dem Vernehmen nach zu tun bereit ist. Reicht das?

Gerken: Nein. Die steuerlichen Maßnahmen ändern nichts an den Strukturproblemen. Das stellt sich ein wenig anders dar, wenn man die Abschaffung der Frührenten betrachtet. Hier eröffnet sich für den griechischen Staat die Möglichkeit, die viel zu hohen Arbeitskosten zu senken.

Aber die Reformen müssten viel umfassender sein. Davon ist Griechenland weit entfernt.

Martin Bohne, M. Bohne, MDR Brüssel, 23.06.2015 03:46 Uhr

tagesschau.de: Was könnte ein weiterer Schuldenschnitt bringen? Und was ein drittes Hilfspaket?

Gerken: Wenn Griechenland in der Euro-Zone bleibt, wird es ein drittes Hilfspaket geben. Das Land ist mindestens mittelfristig nicht sanierungsfähig. Das sieht man allein schon an der Konsumquote, die bei 121 Prozent liegt.

Die Griechen konsumieren also viel mehr, als sie verdienen. Da bleibt nichts für Investitionen übrig. Im Gegenteil: Die Wirtschaft verfällt. An diesen desaströsen Zahlen ändert auch ein Schuldenschnitt nichts, und auch nicht daran, wie diese Zahlen zustande kommen.

"Eine Kröte müssen wir schlucken"

tagesschau.de: Sie sprechen sich seit mehreren Jahren für eine Rückkehr Griechenlands zur Drachme aus. Warum ist das Ihrer Meinung nach zwingend notwendig?

Gerken: Nach einer Abwertung der eigenen Währung wären griechische Produkte auf dem Weltmarkt wieder konkurrenzfähig. Das ist der entscheidende Punkt. Aber machen wir uns nichts vor: Ein Austritt Griechenlands aus dem Euro führt zu erheblichen Verwerfungen. Für die heutige Situation gibt es einfach keine saubere Lösung. Irgendeine Kröte müssen wir schlucken.

Die Rückkehr zur Drachme erscheint mir sinnvoll, weil dieser Weg die Euro-Zone stark halten würde. Wir erleben jetzt schon, dass das griechische Beispiel droht, Schule zu machen. Die Schwergewichte Frankreich und Italien versäumen es ebenfalls, die notwendigen Reformen einzuleiten.

Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de