Szenarien zum Referendum Was passiert, wenn die Griechen ...

Stand: 04.07.2015 08:51 Uhr

Was wird, wenn die Griechen am Sonntag mit "Ja" stimmen? Und was, wenn mit "Nein"? tagesschau.de skizziert die denkbaren Szenarien - von einer raschen Einigung bis hin zum totalen Chaos.

Von Heinz-Roger Dohms, tagesschau.de

Am Sonntag findet das griechische Referendum statt. Doch was passiert danach?

Darauf müsste man eigentlich mit dem alten Griechen Sokrates antworten ...

... wir wissen, dass wir nichts wissen ...

Genau. Allein in den vergangenen Tagen hat das griechische Schuldendrama derart viele Wendungen genommen, dass niemand seriös vorhersagen kann, wie es nach der Volksabstimmung weitergeht.

Versuchen wir es trotzdem. Was passiert, wenn die Griechen mit "Ja" stimmen, sie die Reformvorschläge der Gläubiger-"Troika" aus EU, IWF und EZB also unterstützen?

Das wäre zunächst einmal krachende Niederlage für die Regierung. Finanzminister Varoufakis hat für diesen Fall seinen Rücktritt angekündigt, Premier Tsipras hat einen Rückzug zumindest angedeutet.

Wäre damit der Weg zu einer Einigung frei?

Nicht zwingend. Tsipras jüngste Äußerungen lassen sich auch so interpretieren, dass er selbst bei einem "Ja" erst einmal im Amt bleiben könnte - zum Beispiel, wenn das Referendum sehr knapp ausgeht.

Und dann?

Die Regierung könnte sich über das Votum des Volkes schwerlich hinwegsetzen. Eine romantische, aber vermutlich realitätsferne Vorstellung ist es, dass Tsipras den Willen der Griechen über die eigene politische Agenda stellt - und sozusagen als letzte Amtshandlung eine rasche Einigung mit den Gläubigern sucht, bevor er dann doch zurücktritt. Wirklichkeitsnäher scheint ein anderes Szenario: Tsipras ist zwar zu Verhandlungen bereit, nicht aber, den Willen der Geldgeber eins zu eins zu akzeptieren.

Aber wäre er durch das Referendum nicht gebunden?

Hier wird die Lage vertrackt. Denn der Vorschlag der Geldgeber, der am Sonntag zur Abstimmung steht, liegt ja streng genommen gar nicht mehr auf dem Tisch. Allem Anschein nach - so äußern sich jedenfalls die Gläubiger - würde es bei neuen Verhandlungen nicht mehr (wie bislang) um eine Verlängerung des zweiten Hilfspakets gehen, sondern um ein gänzlich neues, drittes Paket. Diese Gemengelage bietet genügend Spielraum für weitere politische Volten.

Würden die Gläubiger denn überhaupt noch mit Tsipras verhandeln wollen?

Das ist der nächste Punkt. Ein ausgewiesener EU-Experte wie Christian Odendahl vom Thinktank "Centre for European Reform" zum Beispiel sagt: "Falls die Griechen mit 'Ja' stimmen, Tsipras aber im Amt bleibt, dann wäre das eine ganz große Hürde für die Geldgeber. Denn wie sollen die Gläubiger einer Regierung, die öffentlich so heftig gegen das 'Ja' gewettert hat, zutrauen, dass sie das gleiche 'Ja' jetzt brav umsetzt?"

Das heißt?

Das heißt, dass das Szenario "Die Griechen stimmen mit 'Ja', Tsipras aber bleibt im Amt" mutmaßlich in eine politische Sackgasse führt.

Was, wenn die Regierung nach einem "Ja" tatsächlich zurücktritt?

Dann gibt es erst einmal keine Regierung mehr, die die neuen Verhandlungen mit den Gläubigern führen könnte. Ein Szenario wären baldige Neuwahlen, "aber bis die abgehalten wären, würden nochmals mindestens vier, fünf Wochen ins Land gehen - und dann wäre immer noch nicht klar, ob die Wahl überhaupt stabile Mehrheiten hervorbringt", sagt ARD-Griechenland-Korrespondent Reinhard Baumgarten. "Die Griechen würden also noch mehr Zeit als ohnehin schon verlieren."

Aber was wäre die Alternative?

Ein klares "Ja" ("klar" hieße zum Beispiel 55 bis 60 Prozent, sagt Baumgarten) könnte die Forderung auslösen, eine Art Technokratenregierung einzusetzen. Deren Mandat wäre es, eine rasche Einigung mit den Gläubigern zu verhandeln. Für solch eine Regierung bräuchte es im Parlament vermutlich eine lagerübergreifende Mehrheit aus gemäßigten Syriza-Abgeordneten und Oppositionspolitikern der "Altparteien" Nea Dimokratie und Pasok. "Ich halte das für nicht ausgeschlossen", meint Baumgarten.

Wäre dies das "Best-Case-Szenario"?

Das hängt vom Standpunkt ab. Denn es ist unter Ökonomen ja keineswegs ausgemacht, dass die Reformprogramme der Gläubiger den Griechen wirklich guttun. Allerdings, dies wäre sicherlich das am besten kalkulierbare Szenario. Wobei ...

Wobei?

Irgendwann - sagen wir spätestens nach sechs oder zwölf Monaten - wird es Neuwahlen geben müssen. "Und dann könnte die absurde Situation eintreten, dass die Gläubiger ein drittes Hilfspaket, das sie mit der Technokratenregierung ausgehandelt haben, mit einer neuen Syriza-geführten Regierung werden umsetzen müssen", sagt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt und Euro-Experte der ING Diba. "Was das heißt, möchte man sich lieber nicht ausmalen."

Klingt fast, als wäre ein "Nein" besser?

Wie gesagt, was besser oder schlechter ist, weiß man nicht. Aber eins scheint klar: So verworren die Lage bei einem "Ja" wäre - bei einem "Nein" wäre sie noch verworrener.

Bricht dann vollends das Chaos aus?

Chaotisch ist die Lage ja jetzt auch schon. Aber der Grexit, sozusagen die Mutter aller Chaos-Szenarien, würde dann erstmals sehr konkret.

Das heißt, im Falle eines "Nein" ist kein Kompromiss mehr denkbar?

Zumindest würde eine Einigung extrem schwierig. Denn die Haltung vieler Gläubiger ist ja: Wir sind den Griechen sehr weit entgegengekommen - weiter geht es nicht mehr. Man muss nur lesen, was EU-Parlamentspräsident Martin Schulz in einem Interview mit dem "Handelsblatt" gesagt hat: Im Falle eines "Nein" seien "die Fronten so verhärtet, dass Griechenland einen bitteren Weg gehen wird. Wir können nicht mehr guten Gewissens weiterverhandeln, wenn das griechische Volk mit 'Nein' stimmt und sich vom Euro und von Europa abwendet."

Mag sein, dass das ein rhetorischer Bluff ist. Aber es klingt nicht so.

Warum glaubt Tsipras dann, er könnte mit einem "Nein" seine Position in den Verhandlungen stärken?

Ob er das glaubt oder nur sagt, sei mal dahingestellt. Was stimmt: Die Gläubiger sind untereinander nicht immer einig. In der EU-Kommission ist die Kompromissbereitschaft zum Beispiel ausgeprägter als in der Bundesregierung. Vielleicht spekuliert Tsipras darauf, einen Keil zwischen die Geldgeber treiben zu können. Bloß: Letztlich muss sich Tsipras mit allen Gläubigern einigen, auch mit den "Hardlinern". Und: Der Kompromiss müsste in manchen Euro-Ländern sogar noch die nationale Parlamente passieren, auch in Deutschland. Das Szenario "Die Griechen stimmen mit 'Nein' und bekommen trotzdem ein drittes Hilfspaket" verlangt also einiges an Vorstellungskraft.

Was immerhin für das Szenario spräche, so Volkswirt Brzeski: "Inhaltlich, das darf man nicht vergessen, lagen Athen und die Gläubiger zuletzt gar nicht mehr so weit auseinander."

Wie würde der "bittere Weg", von dem Schulz spricht, aussehen?

Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten. 1.) Die Griechen bleiben trotz faktischer Staatspleite Mitglied der Währungsunion. Oder 2.) Die Griechen scheiden aus der Eurozone aus. Das wäre dann der berühmt-berüchtige Grexit. Diese Szenarien überzeugend zu beschreiben, fällt allerdings selbst Ökonomen schwer. Denn es gibt weder für "Fall 1" noch für "Fall 2" einen Präzendenzfall.

Wie darf man sich "Szenario 1" denn vorstellen?

Die Sache ist, es gibt nicht nur ein "Szenario 1", sondern ganz viele. Der frühere IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn zum Beispiel hat am Wochenende eine Lösung vorgeschlagen, wonach Griechenland zwar keine frischen Kredite mehr erhält, die bestehenden aber auch nicht mehr bedient (was die Gläubiger natürlich nicht gutheißen, aber stillschweigend akzeptieren würden). Angesichts der griechischen Haushaltslage würde das naturgemäß mit harten Kürzungen einhergehen, zum Beispiel bei den Renten - denn Sozialausgaben auf Pump zu finanzieren, wäre dann nicht mehr möglich.

Diese Lösung hört sich zumindest praktikabel an ...

Ja, aber das bedeutet nicht, dass sie das wirklich ist. Zum Beispiel bliebe das Problem, wie die Regierung die Banken wieder ans Laufen bringen will. Denn dass die EZB eine solche Lösung mit weiteren Notkrediten unterstützt, ist schwer vorstellbar. Stattdessen müssten - vermutlich - zumindest große Sparguthaben enteignet werden, um mit dem Geld die Banken zu rekapitalisieren. Einem Bericht der "Financial Times" zufolge bereiten sich die griechischen Geldhäuser genau darauf vor. Varoufakis dementierte den Artikel auf Twitter allerdings vehement.

Und "Szenario 2", der Grexit?

Der Grexit ginge wahrscheinlich mit der Wiedereinführung der Drachme einher. In der Theorie hört sich auch dieses Szenario praktikabel an: Sparguthaben würden umgewandelt, Renten und andere staatliche Ausgaben in Drachme ausgezahlt. Im Vergleich zum Euro würde die neue Währung rasch abgewertet werden. Die Griechen wären - platt gesagt - ärmer, könnte aber zugleich billiger produzieren, weil ja auch die Löhne in Drachme gezahlt würden. Ökonomen wie Ifo-Chef Hans-Werner Sinn versprechen sich davon eine Art Radikalkur, die zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und auf lange Sicht auch wieder zu mehr Wohlstand führe.

Aber?

Die Wiedereinführung der Drachme - ob ökonomisch sinnvoll oder nicht - lässt sich nicht von heute auf Morgen umsetzen, sondern wäre technisch und logistisch hochkomplex. Der Grexit, schreibt darum die Investmentbank Goldman Sachs in einer Studie, würde ein langwieriger Prozess "mit vielen Grautönen".

Und in der Zwischenzeit?

Wird es, um Schulz zu zitieren, bitter. Egal, wie die Abstimmung am Sonntag ausgeht - die Banken dürften sobald nicht wieder öffnen. Und falls die EZB ihre Nothilfen kappen sollte, könnten sie sogar komplett zusammenbrechen.

Dann verschwindet buchstäblich das Geld?

Zumindest wird es knapp. Sicher, es gäbe noch jenes Geld, dass vor der Bankenschließung von den Konten abgeflossen ist, es gäbe das Geld, dass die Touristen ins Land bringen. Aber: Ob der Staat die Renten noch bezahlen kann, ob Arbeitnehmer ihre Löhne erhalten, ob Rechnungen noch beglichen und Steuern bezahlt werden - all das stünde infrage. Im Falle eines ungeordneten Grexits "droht der Absturz ins Chaos", sagt der Ökonom Clemens Fuest.

Aber auch das muss nicht so kommen?

Nein, auch das muss nicht so kommen.